Seite - 7 - in Rausch der Verwandlung
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Wille oder Kraft hätte, sie wieder aufzuheben. Weich und fast atemlos lehnt
sie im Sessel und läßt sich, geschlossenen Auges, überrieseln von dem
wunderbar seltenen Gefühl berechtigten Müßigganges.
Da plötzlich: Tack! Sie schreckt auf. Und nochmals, härter, metallener,
unduldsamer: Tack, Tack, Tack. Der Morse hämmert ungebärdig, das
Uhrwerk schnarrt: ein Telegramm – seltener Gast in Klein-Reifling – will
respektvoll empfangen sein. Mit einem Ruck reißt sich die Postassistentin aus
dem duseligen Faulenzergefühl, springt hin zum Lauftisch und schaltet den
Streifen ein. Aber kaum sie die ersten Worte der rundlaufenden Schrift
entziffert, braust ihr das Blut hoch bis unters Haar. Denn zum erstenmal, seit
sie hier Dienst tut, sieht sie ihren eigenen Namen auf einem telegrafischen
Blatt. Sie liest einmal, zweimal, dreimal die nun schon fertig gehämmerte
Depesche, ohne den Sinn zu verstehen. Denn wie? Was? Wer telegrafiert da
aus Pontresina an sie? »Christine Hoflehner Klein-Reifling, Österreich,
aufrichtig willkommen, erwarten dich jederzeit, jeden beliebigen Tag,
anmelde nur vorher telegrafisch Ankunft. Herzlichst Claire – Anthony.« Sie
sinnt nach: Wer ist diese oder dieser Anthony, der sie erwartet? Hat sich ein
Kamerad einen einfältigen Scherz geleistet? Aber dann fällt ihr plötzlich ein,
die Mutter hat ihr schon vor Wochen erzählt, die Tante käme diesen Sommer
nach Europa herüber, und richtig, die heißt doch Klara. Und Anthony, das
muß der Vorname ihres Mannes sein, die Mutter hat ihn nur immer Anton
genannt. Ja, und jetzt erinnert sie sich schärfer, vor einigen Tagen hat sie doch
selbst einen Brief aus Cherbourg an die Mutter gebracht, und die hat damit
geheimnisvoll getan und kein Wort vom Inhalt erzählt. Aber das Telegramm
ist doch an sie gerichtet. Soll sie am Ende selbst hinauf nach Pontresina zu der
Tante? Davon war doch nie die Rede. Und immer wieder starrt sie den noch
unaufgeklebten Streifen an, das erste Telegramm, das sie hier persönlich
empfangen, immer wieder überliest sie ratlos, neugierig, ungläubig, verwirrt
das merkwürdige Blatt. Nein, unmöglich, bis Mittag zu warten. Gleich muß
sie die Mutter fragen, was das alles bedeutet. Mit einem Riß greift sie den
Schlüssel, sperrt den Amtsraum ab und läuft hinüber zur Wohnung. In der
Erregung vergißt sie, den Hebel des Telegrafenapparats abzustellen. Und so
tackt und tackt und tackt im leeren Raum, wütend über die Mißachtung, der
messingene Hammer wortlos weiter und weiter auf den leeren Streifen los.
Immer wieder erweist sich die Schnelle des elektrischen Funkens
unausdenkbar, weil sie geschwinder als unsere Gedanken. Denn diese zwölf
Worte, die wie ein weißer, lautloser Blitz im dumpfen Brodem des
österreichischen Amtsraums landeten, waren erst wenige Minuten vorher drei
Länder weit im blaukühlen Schatten von Gletschern unter einem enzianisch
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik