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reinen Engadinhimmel hingeschrieben worden, und noch war die Tinte nicht
eingetrocknet auf dem Absenderformular, als schon ihr Sinn und Ruf
einschlug in ein bestürztes Herz.
Folgendes war dort geschehen: Anthony van Boolen, Holländer, aber seit
vielen Jahren eingesessener Baumwollmakler in den amerikanischen
Südstaaten, Anthony van Boolen also, ein gutmütiger, phlegmatischer und im
Grunde höchst unbeträchtlicher Mann, hatte eben sein Frühstück auf der
Terrasse – ganz aus Glas und Licht – des Palace Hotels beendet. Nun kam des
Breakfasts nikotinische Krönung, die knollige, schwarzbraune Havanna,
eigens in luftdichter Blechdose vom Pflanzort herübergebracht. Um den
ersten allererquicklichsten Zug mit dem gelernten Behagen eines erfahrenen
Rauchers zu genießen, polsterte der etwas fettleibige Herr seine Beine auf
einem gegenüberliegenden Korbsessel hoch, dann entspannte er das riesige,
quadratische Papiersegel des ›New York Herold‹ und entreiste mit ihm ins
unermeßliche Letternmeer der Kurse und Maklernotierungen. Seine Gattin,
ihm am Tisch quer gegenüber, Claire, früher höchst simpel Klara genannt,
zerteilte inzwischen gelangweilt die morgendliche Grapefruit. Sie wußte aus
vieljähriger Erfahrung, daß jeder Versuch, mit einem Gespräch die
allmorgendliche Papierwand zu durchbrechen, bei ihrem Gatten völlig
aussichtslos blieb. So geschah es nicht unwillkommen, daß der putzige
Hotelboy, braunbekappt und apfelwangig, plötzlich scharf mit der
Morgenpost auf sie losschwenkte: das Tablett enthielt nur einen einzigen
Brief. Immerhin, sein Inhalt schien sie lebhaft zu beschäftigen, denn,
unbelehrt von vielfachen Erfahrungen, versuchte sie die Morgenlektüre des
Mannes zu unterbrechen: »Anthony, einen Augenblick«, bat sie. Die Zeitung
rührte sich nicht. »Ich will dich nicht stören, Anthony, nur eine Sekunde hör
zu, die Sache hat Eile. Mary –« sie sprach es unwillkürlich englisch aus, »–
Mary schreibt mir eben ab. Sie kann nicht kommen, sagt sie, so gern sie
möchte, aber es stünde schlecht mit ihrem Herzen, furchtbar schlecht, und der
Arzt meint, sie würde die zweitausend Meter nicht durchhalten. Es sei ganz
ausgeschlossen. Aber wenn wir einverstanden wären, würde sie statt ihrer
gern für vierzehn Tage Christine zu uns schicken, du weißt ja, die jüngste, die
blonde. Du hast ja einmal vor dem Kriege ein Foto von ihr bekommen. Sie
hat zwar Arbeit in einem Post-Office, aber sie hat noch nie rechten Urlaub
genommen, und wenn sie darum einreicht, bekommt sie ihn sofort, und sie
wäre natürlich glücklich, nach so vielen Jahren ›Dir, liebe Klara, und dem
verehrten Anthony ihre Aufwartung zu machen‹ usw. usw.«
Die Zeitung rührte sich nicht. Claire wurde ungeduldig. »Nun, was meinst
du, soll man sie kommen lassen? … Schaden möchte es dem armen Ding
nicht, ein paar Löffel frischer Luft zu trinken, und schließlich, es gehört sich
doch. Wenn ich einmal hier herüben bin, sollte ich doch wirklich das Kind
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik