Seite - 9 - in Rausch der Verwandlung
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meiner Schwester kennenlernen, man hat ja gar keinen Zusammenhang mehr.
Hast du etwas dagegen, daß ich sie kommen lasse?«
Die Zeitung knisterte ein wenig. Erst stieg ein Havannakringel über die
weiße Kante, rund, schön blau, dann erst kam in schwerfälliger und
gleichgültiger Stimme nach: »Not at all. Why should I?«
Mit diesem lakonischen Bescheid war das Gespräch beendet und ein
Schicksal begann. Ein Zusammenhang war erneuert über Jahrzehnte hinweg,
denn trotz des beinahe adelig klingenden Namens, dessen »van« nur ein
gewöhnliches holländisches war, und trotz der ehelichen englischen
Konversation war jene Claire van Boolen niemand anderes als die Schwester
der Marie Hoflehner und demnach unbezweifelbar Tante der Postassistentin
in Klein-Reifling. Daß sie Österreich vor mehr als einem Vierteljahrhundert
verlassen hatte, war im Zuge einer etwas dunklen Geschichte geschehen, an
die sie sich – das Gedächtnis ist uns immer gern gefällig – nur ungenau mehr
erinnerte und über die auch ihre Schwester ihren Töchtern nie deutlichen
Bericht gegeben hatte. Seinerzeit aber hatte die Affaire allerhand Aufsehen
erregt und hätte noch größere Folgen gezeitigt, wenn nicht rechtzeitig kluge
und geschickte Männer der allgemeinen Neugier einen willkommenen Anlaß
entzogen hätten. Zu jener Zeit war jene Frau Claire van Boolen bloß das
Fräulein Klara in einem vornehmen Modesalon auf dem Kohlmarkt gewesen,
ein simples Probierfräulein. Aber flinkäugig und geschmeidig, wie sie damals
war, hatte sie einen ältlichen Holzindustriellen, der seine Frau zur Anprobe
begleitete, in verheerender Weise beeindruckt. Mit dem ganzen verzweifelten
Ungestüm der Torschlußpanik vernarrte sich innerhalb weniger Tage der
reiche und noch ziemlich wohlkonservierte Kommerzialrat in ihre mollige
und zugleich lustige Blondheit, und eine selbst in jenen Kreisen
ungewöhnliche Freigebigkeit beschleunigte seine Werbung. Bald konnte die
neunzehnjährige Probiermamsell, sehr zur Entrüstung ihrer soliden Familien,
die schönsten Kleider und Pelze, die sie bisher nur kritteligen und meist
anspruchsvollen Kunden vor dem Spiegel vorparadieren durfte, als eigenen
Besitz in einem Fiaker spazierenfahren. Je eleganter sie wurde, desto mehr
gefiel sie dem ältlichen Gönner, und je mehr sie dem von seinem
unvermuteten Liebesglück ganz wirr gewordenen Kommerzialrat gefiel, desto
verschwenderischer stattete er sie aus. Nach wenigen Wochen hatte sie ihn so
völlig weichgeknetet, daß bei einem Rechtsanwalt in aller Heimlichkeit
bereits Scheidungsakten vorbereitet wurden und sie auf bestem Wege war,
eine der reichsten Frauen von Wien zu werden – da fuhr die Gattin,
durch anonyme Briefe gewarnt, mit einer energischen Dummheit dazwischen.
Tollwütig gemacht von ihrer berechtigten Erbitterung, nach dreißig Jahren
ungestörter Ehe plötzlich abgehalftert zu werden wie ein lahm gewordenes
Pferd, kaufte sie einen Revolver und überfiel das ungleiche Paar bei einer
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik