Seite - 11 - in Rausch der Verwandlung
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tausend Einzelheiten fielen ihr wieder ein, und mit einmal schämte sie sich,
jahrelang der verarmten, verwitweten Schwester keine Zeile geschrieben zu
haben. Es ließ ihr keine Rast: gleich von der Landungsbrücke sandte sie jenen
Brief, der einen Hundertdollarschein enthielt und die Bitte, zu kommen.
Nun aber die Einladung auf die Tochter übertragen werden sollte, brauchte
Frau van Boolen nur zu winken, und schon schoß wie ein brauner Bolzen der
livrierte Boy heran, holte, knapp bedeutet, ein Telegrammformular und sauste,
die Kappe eng an den Ohren, mit dem beschriebenen Blatt zum Postamt.
Wenige Minuten darauf sprangen die Zeichen vom klappernden Morseapparat
zum Dach hinauf in die schwingende Kupfersträhne, und schneller als die
klirrenden Bahnen, unsagbar geschwinder als die staubaufwirbelnden Autos
spritzte mit einem einzigen Funkblitz die Botschaft tausend Kilometer Draht
durch. Ein Nu und die Grenze war übersprungen, ein Nu und das
tausendgipfelige Vorarlberg, das putzige Liechtenstein, das tälerreiche Tirol
durchstoßen, und schon zischte das magisch verwandelte Wort aus
Gletscherhöhen mitten ins Donautal, in Linz in einen Transformator. Dort
hielt es einige Sekunden Rast, dann, rascher, als man das Wort »rasch«
auszusprechen vermag, schoß die Botschaft den Dachschalter in Klein-
Reifling herab in den aufschreckenden Empfangsapparat und von dort wieder
mitten in ein erstauntes, verwirrtes, von Neugier heiß überflutetes Herz.
Quer um die Ecke, eine dunkle knarrende Holzstiege hinauf, und schon ist
Christine daheim in dem gemeinsamen kleinfenstrigen Mansardenzimmer
eines engbrüstigen Bauernhauses. Ein breit vorgeschobener Dachgiebel,
Schneefang im Winter, kargt dem Oberstocke tagsüber jeden Faden Sonne
weg; nur abends kriecht manchmal ein dünner und schon kraftloser Strahl bis
zu den Geranien des Fensterbrettes. Immer muffelt es darum in der düstern
Dachbodenstube nach Sumpfigem und Dumpfem, nach faulem Firstholz und
modrigen Laken; uralte Gerüche sitzen wie Pilze im Holz; wahrscheinlich
hätte in gewöhnlichen Zeitläuften diese Kammer nur als Speicher
gedient. Aber die Nachkriegszeit mit ihrer grimmigen Wohnungsnot hatte
bescheiden gemacht und dankbar, überhaupt nur zwei Betten, einen Tisch und
alten Kasten irgendwo zwischen vier Wände stellen zu dürfen. Selbst der
ererbte Lederpolstersessel verstellte zu viel Platz, billig ging er an einen
Trödler, und das erwies sich später als arger Mißgriff, denn immer wenn jetzt
der alten Frau Hoflehner die aufgeschwollenen, wassersüchtigen Füße
versagen, bleibt ihr als einzige Ruhestätte immer wieder und wieder nur das
Bett.
Diese kranken, zu breiten Klumpen gequollenen Beine, die unter den
Flanellbandagen gefährliches Venenblau zeigen, dankt die abgemüdete, früh
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik