Seite - 12 - in Rausch der Verwandlung
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gealterte Frau dem zweijährigen Dienst in einem nicht unterkellerten
Bodengelaß eines Kriegsspitals, dem sie (man mußte verdienen) als
Beschließerin zugeteilt war. Seitdem ist ihr Gehen nur mehr ein mühsames
Sichfortkeuchen, und immer wenn sie sich anstrengt oder aufregt, muß die
massige Frau sich plötzlich ans Herz greifen. Sie wird, das weiß sie, nicht alt.
Ein Glück darum, daß nach dem Umsturz der Schwager Hofrat noch
rechtzeitig die Posthilfsstelle aus dem Wirrwarr für die Christine
herausfischte, erbärmlich zwar bezahlt und in einem ganz abseitigen Nest.
Aber immerhin: eine Handvoll Sicherheit, ein paar Schindeln über dem Kopf,
ein Stück Raum für den Atem, knapp ausreichend zum Leben und eher
Gewöhnung schon an den noch engern Sarg.
Immer riecht es nach Essig und Feuchtem, nach Krankheit und
Bettlägerigkeit in dem schmalen Geviert, und von der winzigen
Küchenkammer nebenan kriecht durch die schlecht schließende Tür ein fader
Geruch und Dunst von aufgewärmten Speisen wie ein schwelender Schleier
herein. Die erste unwillkürliche Bewegung, kaum daß sie das Zimmer betritt,
ist, daß Christine das geschlossene Fenster aufreißt. Von dem klirrenden Ruck
erwacht die alte Frau auf dem Bett und stöhnt. Sie kann nicht anders, immer,
bei jeder Bewegung stöhnt sie, so wie ein zerbrochener Kasten knarrt, noch
ehe man ihn anrührt, bloß wenn man ihm nahetritt: es ist eine wissende
Vorausangst des rheumatischen Körpers vor dem Schmerz, der von jeder
Bewegung ausgeht. Erst stöhnt sie also, die alte Frau, und dann erst, nach
diesem unerläßlichen Seufzer, fragt sie auftaumelnd: »Was ist?« Bis unter den
Schlummer weiß der benommene Sinn, es kann noch nicht Mittag, noch nicht
Essenszeit sein. Etwas Besonderes muß sich ereignet haben. Da reicht ihr die
Tochter das Telegramm.
Umständlich, jede Bewegung tut weh, tastet die verwitterte Hand nach der
Brille auf dem Nachtkasten, es dauert, bis sie die stahlgeränderten Gläser
unter dem Apothekerkram gefunden und vor die Augen gestülpt hat. Aber
kaum die alte Frau das Blatt entziffert, fährt’s wie ein elektrischer Schlag
durch den schweren Leib, die ganze breite Masse jappt auf, ringt nach Atem,
taumelt und wirft sich schließlich mit ihrer ganzen unwiderstehlichen Wucht
auf Christine. Heiß hält sie sich an der erschrockenen Tochter, schauert, lacht,
keucht, will reden und vermag es noch nicht, schließlich sinkt die alte Frau
erschöpft, die Hände ans Herz gepreßt auf den Sessel, atmet tief und hält eine
Minute keuchend inne. Dann aber bricht es heraus aus dem zuckenden,
zahnlosen Munde, wirr, nur halbverständlich in zitternden, stotternden und
halbverschluckten Satztrümmern, immer wieder überschwemmt von wirrem
und triumphierendem Lachen, und während sie, statt sich verständlich zu
machen, immer heftiger stammelt und gestikuliert, fließen ihr schon die
Tränen breit über die Backen in den welken und zuckenden Mund.
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Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik