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Rausch der Verwandlung
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gealterte Frau dem zweijährigen Dienst in einem nicht unterkellerten Bodengelaß eines Kriegsspitals, dem sie (man mußte verdienen) als Beschließerin zugeteilt war. Seitdem ist ihr Gehen nur mehr ein mühsames Sichfortkeuchen, und immer wenn sie sich anstrengt oder aufregt, muß die massige Frau sich plötzlich ans Herz greifen. Sie wird, das weiß sie, nicht alt. Ein Glück darum, daß nach dem Umsturz der Schwager Hofrat noch rechtzeitig die Posthilfsstelle aus dem Wirrwarr für die Christine herausfischte, erbärmlich zwar bezahlt und in einem ganz abseitigen Nest. Aber immerhin: eine Handvoll Sicherheit, ein paar Schindeln über dem Kopf, ein Stück Raum für den Atem, knapp ausreichend zum Leben und eher Gewöhnung schon an den noch engern Sarg. Immer riecht es nach Essig und Feuchtem, nach Krankheit und Bettlägerigkeit in dem schmalen Geviert, und von der winzigen Küchenkammer nebenan kriecht durch die schlecht schließende Tür ein fader Geruch und Dunst von aufgewärmten Speisen wie ein schwelender Schleier herein. Die erste unwillkürliche Bewegung, kaum daß sie das Zimmer betritt, ist, daß Christine das geschlossene Fenster aufreißt. Von dem klirrenden Ruck erwacht die alte Frau auf dem Bett und stöhnt. Sie kann nicht anders, immer, bei jeder Bewegung stöhnt sie, so wie ein zerbrochener Kasten knarrt, noch ehe man ihn anrührt, bloß wenn man ihm nahetritt: es ist eine wissende Vorausangst des rheumatischen Körpers vor dem Schmerz, der von jeder Bewegung ausgeht. Erst stöhnt sie also, die alte Frau, und dann erst, nach diesem unerläßlichen Seufzer, fragt sie auftaumelnd: »Was ist?« Bis unter den Schlummer weiß der benommene Sinn, es kann noch nicht Mittag, noch nicht Essenszeit sein. Etwas Besonderes muß sich ereignet haben. Da reicht ihr die Tochter das Telegramm. Umständlich, jede Bewegung tut weh, tastet die verwitterte Hand nach der Brille auf dem Nachtkasten, es dauert, bis sie die stahlgeränderten Gläser unter dem Apothekerkram gefunden und vor die Augen gestülpt hat. Aber kaum die alte Frau das Blatt entziffert, fährt’s wie ein elektrischer Schlag durch den schweren Leib, die ganze breite Masse jappt auf, ringt nach Atem, taumelt und wirft sich schließlich mit ihrer ganzen unwiderstehlichen Wucht auf Christine. Heiß hält sie sich an der erschrockenen Tochter, schauert, lacht, keucht, will reden und vermag es noch nicht, schließlich sinkt die alte Frau erschöpft, die Hände ans Herz gepreßt auf den Sessel, atmet tief und hält eine Minute keuchend inne. Dann aber bricht es heraus aus dem zuckenden, zahnlosen Munde, wirr, nur halbverständlich in zitternden, stotternden und halbverschluckten Satztrümmern, immer wieder überschwemmt von wirrem und triumphierendem Lachen, und während sie, statt sich verständlich zu machen, immer heftiger stammelt und gestikuliert, fließen ihr schon die Tränen breit über die Backen in den welken und zuckenden Mund. 12
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Rausch der Verwandlung
Titel
Rausch der Verwandlung
Autor
Stefan Zweig
Datum
1982
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
204
Kategorien
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