Seite - 14 - in Rausch der Verwandlung
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ihre gelungene Überraschung. Da plötzlich, in einem Augenblick der
Erschöpfung, merkt die Mutter, daß Christine, der sie all diesen Jubel zuwirft,
ganz blaß, benommen und geniert dasteht, die Augen verwundert und eher
verwirrt, und gar nicht weiß, was sie antworten soll. Das ärgert die alte Frau.
Mit Kraft fährt sie noch einmal vom Sessel empor und auf sie zu, herzhaft
packt sie die Verstörte an, küßt sie fest und feucht, reißt sie an sich, schüttelt
und rüttelt sie hin und her, als wolle sie die Erschreckte aus dem Schlaf
aufwecken: »Ja, warum sagst du denn nichts? Wen geht’s denn an als dich,
was hast denn, du Dummerl? Stehst ja wie ein Holz und sagst nichts und
red’st nichts, und so ein Glücksfall! So freu dich doch! Ja, warum freust dich
denn nicht?«
Das Reglement verbietet strengstens allen Postangestellten ein längeres
Verlassen des Dienstraumes während der Amtsstunden, und auch der
wichtigste private Umstand besteht nicht vor dem ärarischen Gesetz: erst das
Amt, dann der Mensch, erst der Buchstabe, dann der Sinn. So sitzt nach
flüchtiger Unterbrechung die Postassistentin von Klein-Reifling wenige
Minuten später wieder pflichtbereit hinter der Glasscheibe. Niemand hat
unterdessen nach ihr verlangt. Verschlafen wie vordem liegen die losen
Schriftblätter auf dem verlassenen Tisch, stumm und gelb glänzt der
abgestellte Telegrafenapparat, der ihr eben noch so viel Hitze ins Blut gejagt,
im dämmerigen Raum. Gottlob, niemand ist gekommen, nichts ist versäumt.
Guten Gewissens kann die Postassistentin nun der verwirrenden Nachricht
nachsinnen, von der sie im Tumult der Überraschung noch gar nicht begriffen
hat, ob sie peinlich oder willkommen aus den Drähten ins Haus sprang. Erst
allmählich ordnen sich die Gedanken. Sie soll fort, zum erstenmal fort von
der Mutter, für vierzehn Tage, vielleicht für länger, zu fremden Leuten, nein,
zur Tante Klara, der Schwester ihrer Mutter, in ein vornehmes Hotel. Sie soll
Urlaub haben, wirklichen ehrlichen Urlaub, nach unzähligen Jahren einmal
ausruhen dürfen, einmal die Welt sehen, etwas Neues, etwas anderes. Sie
denkt nach, immer wieder, immer wieder. Es ist eigentlich doch gute
Botschaft, und die Mutter hat recht, wirklich, sie hat recht, wenn sie darüber
so froh ist. Ehrlich gedacht doch die beste Nachricht seit Jahren und Jahren,
die ihr ins Haus kam. Zum erstenmal sich vom Dienst abhalftern zu dürfen,
frei sein, neue Gesichter sehen, ein Stück Welt, ist das nicht wirklich
Geschenk aus blauem Tag? Und plötzlich klingt sie ihr im Ohr, die staunende,
erschreckte, fast zornige Frage der Mutter: »Ja, warum freust du dich denn
nicht?«
Sie hat recht, die Mutter, wirklich recht: warum freue ich mich nicht?
Warum regt sich nichts in mir, warum faßt’s mich nicht und schüttelt mich um
und um? Immer wieder horcht sie, ob sich nicht innen eine Antwort melden
wollte auf diese aus dem Himmel hereingeschmetterte gute Überraschung,
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Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik