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Rausch der Verwandlung
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hastigen Nachschreiten immer wieder seinen Atem zusammen, um sie zu beruhigen. Nein, nicht sorgen, er selbst werde jeden Tag, das verspreche er ihr, nach der Mutter sehen. Wenn jemand, so habe sie ein Recht, endlich einmal sich Urlaub zu gönnen, seit Jahren hätte sie keinen Tag ausgespannt. Er selbst wäre doch der Erste ihr abzuraten, wenn’s gegen ihre Pflicht ginge; aber nur keine Sorge, jeden Tag würde er ihr Nachricht geben, jeden Tag. Sehr hastig, kreuz und quer durcheinander keucht er, was ihm gerade einfällt, um sie zu beruhigen, und wirklich, sein dringliches Zureden tut ihr wohl. Sie hört gar nicht deutlich hin, was er sagt, sie fühlt nur, einer ist da, auf den sie sich verlassen kann. Auf dem Bahnhof, der Zug ist schon signalisiert, räuspert der bescheidene Begleiter sich umständlich und verlegen. Die ganze Zeit merkt sie schon, er tritt vom rechten Fuß auf den linken, er will etwas sagen und hat nur keinen Mut. Endlich nützt er eine Pause und zieht schüchtern aus der Brusttasche etwas Weißes und Zusammengefaltetes. Sie möge entschuldigen, es sei natürlich kein Geschenk, nur eine kleine Aufmerksamkeit, vielleicht könnte sie ihr nützlich sein. Überrascht entfaltet sie das längliche Büttenpapier. Es ist eine Schmalkarte ihrer Reise von Linz bis nach Pontresina, wie eine Ziehharmonika zu entfalten; alle Flüsse, Berge und Städte längs der Bahnstrecke sind mit schwarzer Tusche mikroskopisch gezeichnet, die Berge entsprechen der Höhe, dünner oder dichter schraffiert, und verraten in winzigen Zahlen ihre Meterzahl, die Flußläufe sind mit blauem, die Städte mit rotem Farbstift eingemalt, die Distanzen in einer eigenen Tabelle rechts unten vermerkt, ganz genau wie auf den großen Schulkarten des geographischen Instituts, aber hier von einem kleinen Hilfslehrer und mit zärtlicher Mühe und spielfreudiger Geduld säuberlich nachgemalt. Unwillkürlich errötet Christine vor Überraschung. Ihre Freude macht dem Schüchternen Mut. Er zieht noch ein zweites Kärtchen hervor, dieses viereckig und mit einer goldenen Borte eingefaßt: die Karte des Engadins, abgezeichnet von der großen Schweizer Generalstabskarte, mit Weg und Steg auch die kleinste Einzelheit künstlich nachgepaust; nur in der Mitte ist ein Gebäude durch einen winzigen Kreis von roter Tinte besonders feierlich hervorgehoben, das sei ihr Hotel, erklärt er, wo sie wohnen werde, er habe es aus einem alten Baedeker bestimmt: so könne sie bei allen Ausflügen sich selber orientieren und ohne Sorge sein, den Weg zu verfehlen. Wirklich ergriffen dankt sie ihm. Seit Tagen muß ganz verschwiegen dieser rührende Mann sich gemüht haben, von der Bibliothek in Linz oder in Wien die Vorlagen heranzubekommen, die ganzen Nächte muß er in zärtlicher Geduld mit hundertmal gespitztem Stift und besonders gekaufter Zeichenfeder diese Karten gezeichnet und koloriert haben, einzig, um ihr aus seiner Armut doch eine rechte und nützliche Freude zu bereiten. Ihre noch gar nicht begonnene Reise, er hat sie Kilometer für Kilometer von 24
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Rausch der Verwandlung
Titel
Rausch der Verwandlung
Autor
Stefan Zweig
Datum
1982
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
204
Kategorien
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