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Rausch der Verwandlung
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Seite - 25 - in Rausch der Verwandlung

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innen her vorausgedacht und mitbegleitet, Tag und Nacht muß ihr Weg und Schicksal in seinen Gedanken gegenwärtig gewesen sein. Wie sie jetzt bewegt dem über seinen eigenen Mut noch Erschrockenen die Hand zum Dank reicht, sieht sie seine Augen hinter den Brillen gleichsam zum erstenmal. Es ist ein sanftes gutes Kinderblau, das nun, während sie ihn anblickt, an der Tiefe des eigenen Gefühls plötzlich dunkler und hintergründiger wird. Und mit einemmal empfindet sie eine ihr bisher selbst unbekannte Wärme in seiner Gegenwart, ein Gefühl von Zuneigung und Vertrauen, wie sie’s noch nie zu einem Manne empfunden. In diesem Augenblick wird eine bisher noch ganz undeutliche Empfindung in ihr plötzlich zum Entschluß; länger und herzlicher als jemals hält sie im Dank seine Hand. Auch er fühlt die veränderte Einstellung, bekommt heiße Schläfen, wird verlegen, atmet tief und ringt nach einem richtigen Wort. Aber da schnaubt schon wie ein böses schwarzes Tier die Lokomotive heran, schleudert zu beiden Seiten die Luft neben sich weg, daß beinahe das Blatt ihrer Hand entflattert. Eine Minute ist bloß Zeit. Christine steigt hastig ein und sieht vom Fenster aus bloß noch ein flatterndes weißes Tuch, das rasch in Rauch und Ferne zerfließt. Dann ist sie allein, seit vielen Jahren zum erstenmal allein. In die hölzerne Ecke des Waggons gedrückt, fährt die Abgemüdete einen ganzen wolkenverdüsterten Abend entlang, trübe Landschaft hinter den verregneten Scheiben. Anfänglich huschen noch kleine Orte undeutlich im Dämmer vorbei, wie aufgeschreckte, flüchtende Tiere, dann rennt alles blind und leer in den Nebel hinein. Niemand teilt ihr Abteil dritter Klasse, so kann sie sich lang hinstrecken auf die Holzbank und nun erst die Tiefe ihrer Erschöpfung spüren. Sie versucht nachzudenken, aber die haspelnde Monotonie des Räderlaufs zerschüttert jeden Zusammenhang, und immer enger preßt sich über ihre schmerzende Stirn die narkotische Haube des Schlafes, jener dumpfe und doch betäubende Eisenbahnschlaf, in dem man fühllos verschnürt liegt wie in einem schwarzen, metallisch geschüttelten Kohlensack. Unter dem fühllos fortgetragenen Leib laufen die Räder lärmend schnell wie gejagte Knechte, über ihren rückgeneigten Kopf fließt Zeit, stumm, unfaßbar, ohne Maß. Und so völlig sinkt ihre Müdigkeit in diese treibende schwarze Flut hinunter, daß sie mitten aus dem Schlummer schreckt, als morgens plötzlich die Tür aufkracht und ein Mann, breitschultrig und schnurrbärtig streng vor ihr steht. Einen Augenblick braucht sie, um die betäubten Sinne zusammenzureißen und zu begreifen, dieser uniformierte Mann will nichts Böses, nicht sie verhaften und wegschaffen, sondern nur Einsicht nehmen in den Paß, den sie mit kältesteifen Fingern aus der Handtasche zieht. Prüfend vergleicht der Beamte das eingeklebte Bild eine Sekunde lang mit ihrem beunruhigten Antlitz. Sie zittert heftig, vom Krieg her zuckt noch in den Nerven die eingehämmerte, unsinnige und doch 25
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Rausch der Verwandlung
Titel
Rausch der Verwandlung
Autor
Stefan Zweig
Datum
1982
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
204
Kategorien
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