Seite - 26 - in Rausch der Verwandlung
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unzerstörbare Angst vor einem Verstoß gegen irgendeine der hunderttausend
Verordnungen: immer war ja jeder schuldig gegen irgendein Gesetz. Aber
freundlich und mit einem lässigen Griff an die Kappe gibt ihr der Gendarm
den Paß zurück und schließt behutsamer, als er sie aufgerissen, die Tür.
Eigentlich könnte Christine sich wieder hinlegen, aber der kalte Schreck hat
ihr den Schlaf von den Lidern gestrichen. Aus Neugier tritt sie ans Fenster,
um hinauszusehen. Und sofort fahren alle Sinne hoch. Denn hinter den
eiskalten Scheiben, wo eben noch (Schlaf weiß um keine Zeit) der Horizont
des Flachlandes als lehmige Welle grau in den Nebel geflossen, haben sich
(warum und wie, sie begreift es nicht) in steinerner Wucht Berge aus dem
Boden geballt, riesige, nie gesehene, übergewaltige Gebilde, und noch
taumelnd vor Überraschung blickt ein erschrecktes Auge zum erstenmal die
unvorstellbare Majestät der Alpen an. Gerade stößt ein erster Sonnenstrahl
durch die Paßluke im Osten und zerklirrt in Millionen Reflexen am Eisfeld
der obersten Gipfel, und so schneidend weiß ist diese Reinheit dieses
ungefiltertenLichts, daß es die Augen blendet. Einen Augenblick muß sie die
Lider schließen. Aber eben dieser Schmerz hat sie erst munter gemacht. Ein
Ruck und es klirrt, dem Wunderbaren näher zu sein, die Fensterscheibe
nieder, und sofort stürzt durch die überrascht geöffnete Lippe gleichzeitig
neue, eiskühle, glasscharfe und mit herbem Schneeatem durchwürzte Luft bis
in die Lunge hinab: nie hat sie so geatmet, so tief und rein. Unbewußt spannt
die Beglückte beide Arme, um diesen ersten, unbedachten brennenden
Schluck ganz tief in sich hineinzuführen, und spürt schon, breit die Brust
gedehnt, von diesem eingetrunkenen Frost eine wohlige Wärme – herrlich,
herrlich – blutaufwärts durch alle Adern steigen. Jetzt erst, durchbrannt von
Frische, vermag sie richtig zu schauen, rechts, links, eines nach dem andern;
immer begeisterter tastet der aufgetaute Blick jeden einzelnen der granitenen
Hänge hinauf bis zur obersten, eisigen Borte, an jeder Stelle neue Herrlichkeit
entdeckend, dort einen Wasserfall in weißer, sich selbst überschlagender Volte
kopfüber zu Tale stürzend, dort, wie Vogelnester eingenistet in die Schrunden,
zierliche, steinbelastete Häuser, dort einen Adler, stolz die höchste Höhe noch
überkreisend, und über allem dieses göttlich reine, rauschende Blau, nie für
möglich gehalten in solcher saftigen und beglückenden Kraft. Immer wieder
starrt die zum erstenmal aus ihrer engen Welt Herausgeflüchtete dieses
Unglaubhafte, diese über Nacht ihrem Schlaf entwachsenen Quadertürme an.
Seit Tausenden Jahren müssen sie hier schon stehen, diese granitenen
Riesenburgen Gottes; Millionen und Myriaden Jahre werden sie
wahrscheinlich hier noch warten, unverrückbar jeder an der gleichen Stelle,
und sie selbst hätte ohne den Zufall dieser Reise sterben können, verwesen
und in Staub zerfallen, ohne eine Ahnung erlebt zu haben von ihrer herrlichen
Gegenwart. An alldem hat man vorbeigelebt, es nie gesehen und kaum zu
sehen gewünscht; sinnlos hat man dahingedöst im winzigsten Raum, kaum
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik