Seite - 32 - in Rausch der Verwandlung
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ganz auf vornehm abgestimmten Raum. Bis in die Knie fühlt sie den Hieb, da
sie so unvermutet ihren gelbgrellen, plustrigen Reisemantel und den
verbogenen Strohhut über einem verstörten Gesicht erblickt.
»Einschleicherin, weg da! Schmutz nicht das Haus an! Geh hin, wohin du
gehörst«, scheint sie der Spiegel anzuherrschen. Wirklich, wie kann ich, denkt
sie bestürzt, mich anmaßen, in solchem Zimmer, in dieser Welt wohnen zu
wollen! Welche Schande für die Tante! Ich soll nicht große Toilette machen,
hat sie gesagt! Als ob ich eine hätte! Nein, ich gehe nicht hinunter, ich bleibe
lieber hier. Ich fahre lieber zurück. Aber wie sich verstecken, wie jetzt noch,
ehe man mich sieht und Ärgernis nimmt, rechtzeitig verschwinden?
Unwillkürlich ist sie auf der Flucht vor dem Spiegel so weit als möglich
zurück und bis auf den Balkon getreten. Krampfig die Hand an das Geländer
gepreßt, starrt sie in die Tiefe hinab. Ein Ruck und man wäre erlöst.
Da donnert von unten kriegerisch noch einmal der Gong. Um Himmels
willen! Sie besinnt sich – in der Halle warten ja der Onkel und die Tante, und
sie tändelt hier herum. Noch nicht gewaschen hat sie sich, nicht einmal den
widerlichen Ausverkaufsmantel abgestreift. Fiebrig schnürt sie den
Strohkoffer auf, ihr Toilettezeug herauszuholen. Aber wie sie das
Gummibündel aufrollt und alles hinlegt auf die glatte Kristallplatte, die grobe
Seife, die kleine kratzige Holzbürste, das sichtbar spottbillige Waschzeug, ist
ihr, als breitete sie ihre ganze Kleinbürgerlichkeit abermals höhnisch
überlegener Neugier hin. Was wird das Dienstmädchen beim Aufräumen
denken, gewiß spottet sie gleich unten dann beim Gesinde über den
bettelhaften Gast; eine erzählt’s der andern, alle wissen es gleich im Haus,
und man muß an ihnen vorbeigehen, täglich vorbeigehen, mit rasch
niedergeschlagenem Blick und das Tuscheln im Rücken spüren. Nein, da
kann die Tante nicht helfen, das läßt sich nicht verstecken, das sickert durch.
Überall, bei jedem Schritt wird eine andere Naht aufreißen, blank und bloß
wird jeder durch Kleid und Schuh ihre nackte Schäbigkeit sehen. Aber nur
weiter jetzt, die Tante wartet, und der Onkel, hat sie gesagt, wird leicht
ungeduldig. Was anziehen? Gott, was tun? Zuerst will sie die Bluse nehmen,
die von der Schwester geliehene, aus grüner Kunstseide, aber gräßlich frech
und ordinär scheint ihr jetzt, was gestern in Klein-Reifling noch das
Prunkstück ihrer Garderobe gewesen. Lieber noch die einfach weiße, weil sie
unauffälliger ist, und dann noch die Blumen aus der Vase: vielleicht, daß sie
vor die Bluse gehalten, die Blicke ablenken mit ihrem heißen Geleucht. Dann,
die Augen niederschlagend, hastig an allen Gästen im Stiegenhaus vorbei, nur
um die Angst, betrachtet zu werden, rasch zu überrennen, flattert sie die
Treppen hinab, blaß, atemlos, einen taumeligen Schmerz zwischen den
Schläfen und mit dem schwindeligen Gefühl, wachen Leibes in eine tödliche
Tiefe zu stürzen.
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Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik