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Rausch der Verwandlung
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wollte; rührend wirkt diese einfache Gebärde und ebenso kindlich der halbaufgetane, fast erschrockene Mund; auch die Augenbrauen sind von einer inneren Traumspannung etwas hochgezogen; bis in den Schlaf hinein, denkt die Tante in plötzlicher Hellsicht, bis in den Schlaf hinein fürchtet sie sich. Und wie blaß die Lippen sind, wie farblos das Zahnfleisch, wie stubenfahl die Haut in diesem doch noch jungen und schlafkindlichen Gesicht. Wahrscheinlich schlecht genährt, verhetzt von frühem Verdienenmüssen, abgemüdet, zermürbt und dabei noch keine achtundzwanzig Jahre. Poor chap! Etwas wie Scham wird plötzlich in der gutmütigen Frau wach, wie sie auf die ahnungslos im Schlummer sich Verratende sieht. Eine Schande wirklich von uns: so müd, so arm, so abgesorgt, längst hätte man ihnen helfen sollen. Da steckt man drüben in hundert Wohltätigkeitssachen, macht charity teas und Weihnachtsspenden, man weiß nicht für wen, und die eigene Schwester, das nächste Blut, an sie hat man vergessen in all den Jahren und hätte doch Wunder mit paar hundert Dollars getan. Freilich, sie hätten doch schreiben können, einen erinnern – immer dieser dumme Armenstolz, dies Nichtbittenwollen! Ein Glück, daß man wenigstens jetzt noch beispringen kann und diesem blassen stillen Mädel ein bißchen Freude machen. Immer mit neuer Rührung, sie weiß nicht warum, muß sie auf dieses ihr sonderbar verträumte Profil sehen – ist es das eigene Bild, aus dem Spiegel der Kindheit tauchend, und plötzliches Besinnen an ein frühes Foto der Mutter, die über ihrem eigenen Kinderbett in schmalem Goldrahmen gehangen? Oder ein Rückerwachen der eigenen Verlassenheit drüben im Boardinghouse – jedenfalls, es kommt ganz unvermutet eine Zärtlichkeit über die alternde Frau. Und zärtlich leise streichelt sie der Schlafenden über das blond atmende Haar. Sofort schreckt Christine auf. Vom Pflegedienst an der Mutter ist sie gewöhnt, bei der kleinsten Berührung parat zu sein. »Ist es schon so spät?« stammelt sie schuldbewußt. Die ewige Angst aller Angestellten, zu spät zu kommen, geht bei ihr seit Jahren mit in den Schlaf und springt mit dem ersten Weckerriß auf. Immer fragt dieser erste Blick die Uhr: »Bin ich nicht zu spät?« Immer ist das erste Taggefühl Angst, eine Pflicht versäumt zu haben. »Aber Kind, was schrickst du gleich so zusammen?« beruhigt die Tante. »Hier hat man Zeit in Doppelportionen, man weiß gar nicht, wie man mit ihr fertig wird. Bleib nur ruhig, wenn du noch müde bist – ich will dich, weiß Gott, nicht stören, ich hab dir nur paar Kleider zum Anschauen gebracht, vielleicht macht es dir Spaß, das eine oder das andere hier oben zu tragen. Ich habe so viel mitgeschleppt von Paris, mir stopft es nur den Kasten voll, und da dachte ich, du trägst besser eins oder das andere für mich.« Christine spürt, das Rot brennt ihr bis in die Bluse hinein. Sie haben es also 36
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Rausch der Verwandlung
Titel
Rausch der Verwandlung
Autor
Stefan Zweig
Datum
1982
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
204
Kategorien
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