Seite - 39 - in Rausch der Verwandlung
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schon jetzt siehst du ganz anders aus. Dann gehen wir spazieren und wollen
heute abends ganz richtig lustig sein.« Ein hartes gutes Pochen im Herzen,
läßt sie sich willig (die Tante meint es ja so gut) in eine gekachelte und von
Spiegeln blinkende Kammer führen, wo es nach Warm und Süß riecht, nach
lauer, blumiger Seife und zerstäubten Essenzen und wo nebenan ein
elektrischer Apparat wie ein Bergsturm saust. Die Friseurin, eine stupsnasige,
flinke Französin, empfängt allerhand Instruktionen, von denen Christine
wenig versteht, und sie versucht es auch gar nicht. Eine neue Lust ist über sie
gekommen, alles mit sich tun, sich willenlos überraschen zu lassen. Man setzt
sie in den bequemen Operationsstuhl, die Tante verschwindet; weich lehnt sie
sich zurück und geschlossenen Augs, in einer wohligen Narkose des
Genießens, spürt Klappern einer Maschine, stählernes Kühl am Nacken, und
das leichte unverständliche Geplapper der munteren Frau, sie atmet die
schwülig weichen Duftwolken ein und läßt fremde geschickte Finger und
süße Essenzen Haar und Hals überrieseln. Nur nicht die Augen auftun, denkt
sie. Vielleicht ist alles dann nicht wahr. Nur nicht fragen. Nur dies
sonntägliche Gefühl auskosten, einmal selbst zu ruhen, und statt andere zu
bedienen, selbst bedient zu sein. Einmal die Hände wohlig in den Schoß
sinken lassen, an sich, mit sich Gutes geschehen und es herankommen lassen,
nur tief sie auskosten, diese seltene Ohnmacht des lässig Zurückgelehntseins
und Sichpflegenlassens, dieses sonderbare sinnliche Gefühl, seit Jahren, seit
Jahrzehnten nicht erlebt; geschlossenen Augs, während das duftende Lau sie
überrieselt, erinnert sie sich an das letzte Mal: sie liegt als Kind im Bett und
hat Fieber gehabt, tagelang, jetzt ist es vorbei und die Mutter bringt ihr weiße
süße Mandelmilch, der Vater, der Bruder sitzen an ihrem Bett, alles sorgt,
alles bemüht sich um sie, alle sind gut und mild. Nebenan zwitschert der
Kanarienvogel spitzbübische Melodie, das Bett hält warm und weich, man
muß nicht zur Schule gehen, alles kommt zärtlich an einen heran, Spielzeug
liegt auf der Decke, und doch ist sie zu wohlig trag, damit zu spielen; nein, es
ist besser, die Augen zu schließen und das Nichtstun, das Mitsichtunlassen zu
fühlen bis tief in die Haut. Jahrzehntelang hat sie sich nicht erinnert an dies
schlaffe, gute Kindheitsbehagen von damals, jetzt ist es plötzlich wieder da,
die Haut erinnert sich, die warmumrieselte Schläfe. Ein paarmal stellt die
flinke Demoiselle Fragen wie: »Wünschen Sie es kürzer?« Aber sie antwortet
nur: »Wie Sie wollen« und blickt absichtlich an dem angenäherten Spiegel
vorbei. Nein, nur dies göttlich Unverantwortliche des
Ansichgeschehenlassens, dies Ausgelöstsein von allem Tun und Wollen nicht
stören, obwohl auch dies verlockend wäre, einmal, zum erstenmal im Leben,
jemanden zu befehlen, etwas herrisch zu verlangen, ein So oder So zu
fordern. Jetzt strömt aus einem geschliffenen Flakon ihr Duft über das Haar,
eine Rasierklinge kitzelt sie fein und zärtlich, sonderbar leicht fühlt sie auf
einmal den Kopf und eine neue, offene Hautkühle im Nacken. Eigentlich
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik