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weich getönt, ein früh hereingebrochener Abend macht alle Dinge ungewiß
und stumm. Einzig das scharf eingesetzte Rechteck Himmel hinter der
geöffneten Balkontür bewahrt noch sein pralles, dichtes und blendendes Blau,
im Innenraum aber beginnen schon alle Farben an den Rändern sacht zu
verfallen und sich mit samtigen Schatten zu mischen. Christine tritt auf den
Balkon, der ungeheuren Landschaft gegenüber, und blickt unverwandt auf das
rasch sich entfaltende Farbenspiel. Als erste verlieren die Wolken ihr
strahlendes Weiß, um allmählich, leise und immer heftiger, zu erröten,
gleichsam als ob sie selbst, sie, die hochmütig Teilnahmslosen, der immer
raschere Niedergang des großen Gestirns zu eigenem Gefühl erregte. Dann
steigen plötzlich aus den Bergwänden Schatten auf, die tagsüber dünn und
einzeln hinter den Bäumen sich duckten; jetzt aber rotten sie sich zusammen,
werden dicht und kühn, wie ein schwarzes Wasser schwemmen sie rasch vom
Tal zu den Gipfeln hinauf, und schon ängstigt sich die erschütterte Seele, ob
dieses Dunkel nun auch die Spitzen überfluten werde und die ungeheure
Runde plötzlich leer und lichtlos sein – und wirklich, ein leichter Hauch von
Frost schlägt als unsichtbare Welle bereits von den Tälern herauf. Aber mit
einemmal beginnen die Höhen neu zu leuchten in einem kälteren und fahleren
Licht; siehe, in dem längst noch nicht erlöschten Azur ist der Mond
erschienen. Wie eine Bogenlampe, hoch und rund schwebt er durch die Gasse
zwischen zwei der mächtigsten Berggipfel, und was eben noch Bild gewesen,
vielfarbige Einzelheiten, beginnt jetzt Schattenriß zu werden,
zusammengefaßte Kontur aus Schwarz und Weiß mit kleinen, ungewiß
flimmernden Sternen.
Ganz betäubt, ganz losgelöst von sich selbst, starrt, an solche Schau nicht
gewöhnt, Christine auf den dramatischenWechsel ständigen Übergangs auf
dieser riesig aufgefalteten Palette. Wie einem die Ohren dröhnen, der nur an
sanfte Geige und Flöte gewöhnt, zum erstenmal die brausenden Tutti eines
vollen Orchesters hört, so beben ihr die Sinne in diesem plötzlich offenbarten
majestätischen Farbenspiel der Natur. Sie starrt und starrt, die Hand
angekrampft an das Geländer. Nie in ihrem Leben hat sie mit solcher
Zusammengefaßtheit in eine Landschaft geblickt, nie sich so völlig in das
Schauen hineingebeugt, nie sich so sehr an das eigene Erleben verloren. In
zwei staunenden Augen ist ihre ganze Lebenskraft zusammengefaßt,
schauend und staunend strömt sie von ihrem eigenen Ich herausgehoben in
die Landschaft hinein, sich selbst vergessend und die Zeit, und es ist ein
Glück, daß in diesem vorsorglichen Hause ein Zeitwächter wartet, der
unerbittliche Gong, der von Mahlzeit zu Mahlzeit die Gäste an ihre
eigentliche Pflicht erinnert, sich für den Luxus bereit zu machen. Christine
schreckt auf beim ersten bronzenen Wirbel. Ausdrücklich hat ihr die Tante
eingeschärft, pünktlich zu sein, rasch jetzt, sich bereit machen zum
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik