Seite - 44 - in Rausch der Verwandlung
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Spiegel entgegen, und er lächelt, er lächelt mit ihrem eigenen Blick; von allen
Seiten versucht und prüft und umschmeichelt sie das eigene Bild, und die
neue Selbstverliebtheit wird nicht satt an diesem neuen verführerischen Ich,
das schön gewandet, jung und erneut ihr aus dieser gläsernen Tiefe immer
wieder lächelnd entgegentritt. Umarmen möchte sie am liebsten diesen neuen
Menschen, der sie ist, ganz nah drängt sie sich heran, daß die Pupillen
einander fast berühren, die lebendigen und jene des Spiegelscheins, und so
kußhaft nahe rührt die heiße Lippe die schwesterliche, daß für einen
Augenblick im Anhauch des Atems die eigene Nähe zerrinnt. Wunderbares
Spiel der Selbstentdeckung, immer wieder setzt sie zu anderer Bewegung an,
um sich anders in dieser Verwandlung zu sehen. Da lärmt von unten der Gong
zum drittenmal. Sie schrickt auf. Mein Gott, nur die Tante nicht warten
lassen, gewiß wird sie schon böse sein. Rasch nur den Mantel um, den
Abendmantel, leicht, buntfarbig, mit köstlichem Pelz verbrämt. Dann, noch
ehe die Hand an den Kontakt faßt, um das Licht auszulöschen, einen gierigen
Abschiedsblick, einen letzten, einen allerletzten in das beglückende Glas.
Wieder das Leuchten in den Augen drüben, wieder die heiße Seligkeit in dem
fremdeigenen Mund! »Ausgezeichnet, ausgezeichnet«, lächelt ihr der Spiegel
zu. In heiterer Flucht eilt sie über den Gang zum Zimmer der Tante, das kühl
und seidig sie umwehende Kleid macht ihr die schnelle Bewegung zur Lust.
Wie von einer Welle fühlt sie sich getragen, wie von einem seligen Wind
geführt; seit Kindertagen ist sie nicht so leicht, so flughaft gegangen: Rausch
der Verwandlung hat in einem Menschen begonnen.
»Ausgezeichnet paßt dir’s. Wie angegossen«, sagt die Tante. »Ja, wenn
man jung ist, dann braucht’s wenig Zauberei! Nur wo das Kleid verstecken
muß, statt zu zeigen, hat’s der Schneider schwer. Aber Spaß beiseite: wie
angegossen sitzt dir’s, man kennt dich kaum wieder; jetzt sieht man erst, was
du für eine gute Figur hast. Aber jetzt auch den Kopf leichter tragen, du gehst
– sei mir nicht böse, daß ich dir’s sage – immer so unsicher, so gebückt, du
drückst dich so ängstlich in dich hinein wie eine Katze beim Regen. Das mußt
du erst noch lernen, amerikanisch zu gehn, leicht, frei, die Stirn hoch nach
vorn wie ein Schiff gegen den Wind. Herrgott, wenn ich noch einmal so jung
wäre.« Christine errötet. Man sieht ihr also wirklich nichts an, sie ist nicht
lächerlich, nicht dörfisch. Inzwischen hat die Tante die Prüfung fortgesetzt,
ihr Blick prüft anerkennend die ganze Figur entlang. »Tadellos! Nur dahier,
auf den Hals gehört noch etwas Schmuck.« Sie beginnt in ihrem Kasten zu
kramen. »Da, diese Perlen nimm noch um! Nein, Tschaperl, keine Angst,
nicht erschrecken, sie sind nicht echt. Die wirklichen liegen drüben in einem
Safe, für eure Pickpockets nehmen wir wahrhaftig nicht die echten nach
Europa mit.« Kühl und fremd rollen die Perlen auf die nackte, leicht
erschauernde Haut. Dann tritt die Tante zurück. Ein letzter Gesamtblick:
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Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik