Seite - 46 - in Rausch der Verwandlung
Bild der Seite - 46 -
Text der Seite - 46 -
vor ihnen so fürchten, vor diesen höflichen, diskreten und wunderbar leisen
Männern, die doch nichts zu wollen scheinen, als daß man ihr Dabeisein gar
nicht spüre? Tapfer langt sie jetzt zu, die Angst ist verschwunden, der Hunger
der langen Fahrt meldet sich energisch zum Wort. Unerhört munden ihr die
leichten getrüffelten Pasteten, die mit Gemüsebeeten kunstvoll umzirkten
Braten, die zarten und schaumigen Desserts, die ihr silberne Messer immer
wieder vorsorglich auf den Teller servieren; um gar nichts muß sie sich
bemühen, an gar nichts denken, und eigentlich wundert sie sich schon gar
nicht mehr. Alles ist doch hier wunderbar und das Wunderbarste, daß sie
selbst hier sein darf, hier in diesem strahlenden, vollen und doch lautlosen
Saal mit auserlesen geschmückten und wahrscheinlich sehr bedeutenden
Menschen, sie, die … aber nein, nicht daran denken, nie mehr daran denken,
solange man hier sein darf. Am herrlichsten aber mundet ihr der Wein. Aus
goldenen, von südlicher Sonne gesegneten Beeren muß er bereitet sein, aus
fernen, aus glücklichen und guten Ländern muß er stammen; durchsichtig wie
Bernstein glüht er im kristalldünnen Glase und schmeichelt sich wie süßes,
gekühltes Öl in die Kehle hinab. Erst wagt Christine in Andacht nur
schüchterne Probe, aber vom Onkel, der sich an ihrem sichtlichen Behagen
begeistert, mit immer wieder neuer Bewillkommnung verführt, läßt sie sich
mehrmals das Glas füllen. Ohne daß sie es will oder weiß, beginnt ihr die
Lippe zu plaudern. Ganz leicht und sprudelnd wie Champagner hinter dem
Pfropf schießt ihr mit einmal Lachen aus der Kehle, und sie staunt selbst, wie
sorglos sein lustiger Schaum zwischen die Worte quirlt; es ist, als ob innen
eine Daube von Angst gesprungen sei, die ihr Herz einengte. Und warum hier
auch Angst? So gut sind sie alle, die Tante, der Onkel, so schön und
geschmückt diese gepflegten, prächtigen Menschen ringsum, schön die Welt,
das ganze Leben.
Der Onkel sitzt breit, behaglich und zufrieden gegenüber: ihr plötzlich
überfließender Übermut macht ihm höllischen Spaß. Ach, noch selber einmal
jung sein, so ein schaumiges, in der eigenen Hitze prasselndes Mädel
fest anfassen zu können, denkt er. Er fühlt sich erheitert, belebt, angeregt,
erfrischt und fast verwegen; sonst phlegmatisch und eher mürrisch, krabbelt
er jetzt aus aufgerütteltem Gedächtnis allerhand Spaßigkeiten hervor, heikle
sogar; unbewußt will er das Feuer heizen, das ihm so wohlig die alten
Knochen wärmt. Er schnurrt vor Behagen wie ein Kater, der Rock wird ihm
heiß, die Wangen verdächtig rot: wie der Bohnenkönig auf dem Bilde von
Jordaens sieht er plötzlich aus, die Wangen inkarniert von Behagen und Wein.
Immer wieder trinkt er ihr zu und will eben Champagner bestellen, da legt die
amüsierte Wächterin, die Tante, ihm warnend die Hand auf den Arm und
erinnert an ein ärztliches Gebot.
Inzwischen hat von nebenan aus der Halle ein rhythmisches Rumoren
46
zurück zum
Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik