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Rausch der Verwandlung
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Bewußtsein empor. Erste Regung: ein ungewisses Zeitgefühl. Die verschlossenen Lider spüren: es wird hell, es muß schon Licht sein im Zimmer, schon Tag. Und sofort krallt sich an dieses dumpf unklare Gefühl bereits der Angstgedanke (er reicht bis tief in den Schlaf hinab): nur nicht das Amt versäumen! Nur nicht zu spät kommen! Automatisch setzt im Unbewußten die seit zehn Jahren eingespulte Gedankenkette ein: sofort wird der Wecker prasseln … nur nicht einschlafen jetzt mehr … Pflicht, Pflicht, Pflicht … rasch aufstehen, um acht beginnt der Dienst, und zuvor muß ich noch einheizen, Kaffee kochen, Milch holen, das Gebäck, aufräumen, der Mutter den Verband wechseln, für Mittag vorrichten, und was noch? … Irgend etwas muß ich doch noch tun heute … Ja, richtig, der Krämerin zahlen, sie hat schon gestern gemahnt … Nein, nur nicht wieder eindösen, sich bereithalten: gleich aus dem Bett, wenn der Wecker klirrt … Aber wie ist das heute … warum zögert er so lang … ist der Wecker verdorben, hatte ich vergessen ihn aufzuziehen … Warum rattert er noch immer nicht, es ist doch schon licht im Zimmer .. Am Ende, um Gottes willen, hab’ ich überschlafen und es ist schon sieben oder acht oder neun und die Leute schimpfen am Schalter, wie damals, als mir so unwohl war, sofort wollten sie sich beschweren bei der Direktion … und man baut ja jetzt so viele Angestellte ab … Jesus Maria, nur nicht zu spät kommen, nur nicht verschlafen … Bis unter das schwarze Erdreich des Schlummers wühlt maulwurfshaft die jahrelang eingefressene Angst vor Unpünktlichkeit. Und so schmerzhaft zerrt diese Angst an Christines taumeligen Sinnen, daß die letzte dünne Schicht Schlaf jäh von ihr abfällt, wach springen die Augenlider auf. Aber wo – ihr Blick tappt erschrocken nach oben – wo bin ich denn? – Was – was ist geschehen mit mir? Statt des täglichen gewohnten abgeschrägten, verräucherten, spinnwebengrauen Mansardendachs mit den braunen Holzbalken schwebt über ihr blühweißer Plafond, viereckig blank, mit vergoldeten Leisten zart eingefaßt. Und woher dieses viele Licht mit einmal im Raum? Ein neues Fenster muß plötzlich aufgebrochen sein über Nacht. Wo bin ich? Wo bin ich denn? Die Verwirrte starrt auf ihre eigenen Hände. Aber sie liegen nicht wie sonst auf dem braunen alten, geflickten Kamelhaartuch, auch die Decke ist plötzlich neu geworden, leicht, flaumig, blau, mit rötlichen Blumen bestickt. Nein – erster Ruck! –, das ist nicht mein Bett. Nein – zweiter Ruck, sie hat sich aufgerichtet –, das ist nicht mein Zimmer, und – dritter, wilderer Ruck – ein ganz wacher Blick und sie weiß alles: Urlaub, Ferien, Freiheit, Schweiz, die Tante, der Onkel, das herrliche Hotel! Keine Angst, keine Pflichten, kein Dienst, keine Zeit, kein Wecker! Kein Herd, keine Angst niemand wartet, niemand drängt: die grausame Mühsalmühle, seit zehn Jahren ihr Leben zermalmend, sie steht zum erstenmal still. Man kann – wie wunderbar warm und weich das Bett hier 53
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Rausch der Verwandlung
Titel
Rausch der Verwandlung
Autor
Stefan Zweig
Datum
1982
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
204
Kategorien
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