Seite - 53 - in Rausch der Verwandlung
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BewuĂźtsein empor. Erste Regung: ein ungewisses ZeitgefĂĽhl. Die
verschlossenen Lider spĂĽren: es wird hell, es muĂź schon Licht sein im
Zimmer, schon Tag. Und sofort krallt sich an dieses dumpf unklare GefĂĽhl
bereits der Angstgedanke (er reicht bis tief in den Schlaf hinab): nur nicht das
Amt versäumen! Nur nicht zu spät kommen! Automatisch setzt im
UnbewuĂźten die seit zehn Jahren eingespulte Gedankenkette ein: sofort wird
der Wecker prasseln … nur nicht einschlafen jetzt mehr … Pflicht, Pflicht,
Pflicht … rasch aufstehen, um acht beginnt der Dienst, und zuvor muß ich
noch einheizen, Kaffee kochen, Milch holen, das Gebäck, aufräumen, der
Mutter den Verband wechseln, für Mittag vorrichten, und was noch? …
Irgend etwas muß ich doch noch tun heute … Ja, richtig, der Krämerin
zahlen, sie hat schon gestern gemahnt … Nein, nur nicht wieder eindösen,
sich bereithalten: gleich aus dem Bett, wenn der Wecker klirrt … Aber wie ist
das heute … warum zögert er so lang … ist der Wecker verdorben, hatte ich
vergessen ihn aufzuziehen … Warum rattert er noch immer nicht, es ist doch
schon licht im Zimmer .. Am Ende, um Gottes willen, hab’ ich überschlafen
und es ist schon sieben oder acht oder neun und die Leute schimpfen am
Schalter, wie damals, als mir so unwohl war, sofort wollten sie sich
beschweren bei der Direktion … und man baut ja jetzt so viele Angestellte
ab … Jesus Maria, nur nicht zu spät kommen, nur nicht verschlafen … Bis
unter das schwarze Erdreich des Schlummers wĂĽhlt maulwurfshaft die
jahrelang eingefressene Angst vor UnpĂĽnktlichkeit. Und so schmerzhaft zerrt
diese Angst an Christines taumeligen Sinnen, daĂź die letzte dĂĽnne Schicht
Schlaf jäh von ihr abfällt, wach springen die Augenlider auf.
Aber wo – ihr Blick tappt erschrocken nach oben – wo bin ich denn? – Was
– was ist geschehen mit mir? Statt des täglichen gewohnten abgeschrägten,
verräucherten, spinnwebengrauen Mansardendachs mit den braunen
Holzbalken schwebt ĂĽber ihr blĂĽhweiĂźer Plafond, viereckig blank, mit
vergoldeten Leisten zart eingefaĂźt. Und woher dieses viele Licht mit einmal
im Raum? Ein neues Fenster muß plötzlich aufgebrochen sein über Nacht.
Wo bin ich? Wo bin ich denn? Die Verwirrte starrt auf ihre eigenen Hände.
Aber sie liegen nicht wie sonst auf dem braunen alten, geflickten
Kamelhaartuch, auch die Decke ist plötzlich neu geworden, leicht, flaumig,
blau, mit rötlichen Blumen bestickt. Nein – erster Ruck! –, das ist nicht mein
Bett. Nein – zweiter Ruck, sie hat sich aufgerichtet –, das ist nicht mein
Zimmer, und – dritter, wilderer Ruck – ein ganz wacher Blick und sie weiß
alles: Urlaub, Ferien, Freiheit, Schweiz, die Tante, der Onkel, das herrliche
Hotel! Keine Angst, keine Pflichten, kein Dienst, keine Zeit, kein Wecker!
Kein Herd, keine Angst niemand wartet, niemand drängt: die grausame
MĂĽhsalmĂĽhle, seit zehn Jahren ihr Leben zermalmend, sie steht zum
erstenmal still. Man kann – wie wunderbar warm und weich das Bett hier
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik