Seite - 62 - in Rausch der Verwandlung
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scharfäugige deutsche Ingenieur vor ihr und bietet ihr – »Auf, auf!« – die
schwere Hand, sie möchte hinüberkommen an ihren Tisch, seine Freunde
hätten gebeten, mit ihr bekannt zu werden. Unsicher, noch hat sie Furcht vor
allem Neuen, aber die Angst überwiegt, für unhöflich zu gelten, gibt sie nach
und läßt sich an den belebten Tisch führen, wo leger plaudernd ein Dutzend
jüngerer Menschen beisammensitzt. Zu ihrem äußersten Schreck stellt sie der
Ingenieur jedem einzelnen der Tafelrunde als Fräulein von Boolen vor, und es
scheint, daß der holländische Onkelsname, auf deutschen Adel umgestellt, bei
allen – sie merkt es am höflichen Aufstehen der Herren – besonderen Respekt
auslöst, offenbar klingt bei ihnen unwillkürliche Erinnerung an die reichste
Familie Deutschlands, die Krupp-Bohlens, nach. Christine fühlt sich erröten:
um Gottes willen, was sagt er da? Aber sie hat nicht die Geistesgegenwart, zu
korrigieren, vor diesen fremden höflichen Menschen kann man doch nicht
einen von ihnen Lügen strafen und erklären: Nein, nein, ich heiße nicht von
Boolen, ich heiße Hoflehner. So duldet sie mit schlechtem Gewissen und
nervösem Zittern in den Fingerspitzen den unbeabsichtigten Betrug. Alle
diese jungen Menschen, ein frisches, flattriges Mädchen aus Mannheim, ein
Wiener Arzt, ein französischer Bankdirektorssohn, ein etwas lauter
Amerikaner und ein paar Leute, deren Namen sie nicht versteht, bemühen
sich sichtlich um sie: jeder fragt sie, eigentlich spricht man nur mit ihr und zu
ihr. In den ersten Minuten ist Christine befangen, jedesmal zuckt sie leicht
auf, wenn jemand zu ihr »Fräulein von Boolen« sagt, immer ist es wie ein
Stich in ein empfindliches Gewebe, aber allmählich gerät sie in den geselligen
Übermut der jungen Menschen hinein, freut sich ihrer raschen Vertraulichkeit
und plaudert schließlich unbefangen mit; alle Menschen meinen es doch hier
so herzlich mit ihr, wozu Angst? Dann kommt die Tante, freut sich, ihren
Schützling so wohl aufgenommen zu sehen, lächelt gutmütig zwinkernd ihr
zu, wenn die andern sie Fräulein von Boolen titulieren, schließlich mahnt sie
an den gemeinsamen Spaziergang, indes der Onkel unaufhaltsam den
Nachmittag durchpokere. Ist das wirklich noch dieselbe Straße wie gestern
oder sieht bloß die geöffnete und geweitete Seele heller und freudiger als die
beengte? Jedenfalls: ganz neu erscheint Christine der Weg, den sie schon
einmal, aber gleichsam noch mit verhängten Augen gegangen, farbiger,
festlicher der Ausblick, als ob die Berge noch gewachsen, die Matten
malachitfarbener oder satter, die Luft kristallischer und reiner und alle
Menschen schöner geworden seien, helläugiger, freundlicher, zutraulicher.
Alles hat seit gestern an Fremdheit verloren, mit einem kleinen Stolz
betrachtet sie die massigen Blöcke der Hotels, seit sie weiß, daß keines
schöner ist als jenes, in dem sie selber wohnen, mit einem Anfang von
wissendem Verständnis die Auslagen, nicht mehr so überirdisch, so aus
anderer, höherer Kaste scheinen ihr die schlankbeinigen, parfümierten Frauen
in den Autos, seit sie selbst in einem so kostbaren gefahren. Nicht mehr
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik