Seite - 68 - in Rausch der Verwandlung
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jugendlicher kleidet, Krawatten farbiger wählt, auch meint sie festzustellen
(vielleicht irrt sie sich?), das Weiß an den Schläfen sei, offenbar auf
künstliche Weise, wieder dunkler geworden. Auffallend oft kommt er unter
allerlei Vorwänden an den Tisch der Tante, schickt – um nicht allzu deutlich
zu werden – beiden Damen täglich Blumen auf das Zimmer, er bringt
Christine Bücher, deutsche und eigens für sie gekaufte, vor allem über die
Besteigung des Matterhorns, nur weil sie einmal im Gespräch zufällig fragte,
wer die ersten gewesen, die sich auf diesen Berg gewagt, und über Sven
Hedins Tibetexpedition. Eines Vormittags, da plötzlich eingebrochener Regen
jeden Ausflug verbietet, setzt er sich mit Christine in eine Ecke der Halle und
zeigt ihr Fotografien, sein Haus, seinen Garten, seine Hunde. Es ist ein
seltsam hohes Kastell, vielleicht noch aus normannischer Zeit. Efeu klettert
noch um die Mauern runder kriegerischer Türme, innen zeigen die Bilder
weite Hallen mit altmodischen Kaminen, gerahmten Familienbildern,
Schiffsmodellen und schweren Atlanten; es muß düster sein, dort winters
allein zu wohnen, denkt sie, und als hätte er ihren Gedanken erraten, sagt er,
auf die Fotografien, eine Koppel Jagdhunde, deutend: »Wenn ich die nicht
hätte, wäre ich jetzt dort ganz allein«; die erste Andeutung vom Tode seiner
Frau, vom Tode seines Sohnes. Ein leiser Schauer überläuft sie, wie sie seine
scheu an ihr vorbeitastenden Augen sieht (sofort blickt er wieder auf die
Fotografien): warum sagt, warum zeigt er mir das alles, warum fragt er so
merkwürdig ängstlich, ob ich in einem solchen englischen Haus mich wohl
fühlen könnte, will er damit andeuten, der reiche vornehme Mann … nein, sie
wagt es selbst nicht auszudenken. Zu unerfahren, kann sie nicht begreifen,
daß dieser Lord, dieser General, der ihr unnahbar scheint, wolkenweit über
ihrer Welt, mit der Mutlosigkeit eines alternden Mannes, der nicht mehr weiß,
ob er noch zählt, und von Scham bedrängt ist, sich durch Werbung lächerlich
zu machen, auf irgendein winziges Zeichen von ihr, auf ein ermutigendes
Wort wartet; aber wie soll sie diese Mutlosigkeit verstehen, sie, die selbst
keinen Mut hat, an sich zu glauben? Sie spürt die Andeutungen als Zeichen
besonderer Sympathie gleichzeitig ängstlich und beglückt, ohne zu wagen,
ihnen zu glauben, indes er sich quält, dies ihr verlegenes Ausweichen richtig
zu deuten. Ganz betroffen steht sie immer auf von jedem Beisammensein,
manchmal meint sie in dem scheuen seitlichen Blick eine wirkliche Werbung
zu spüren, dann verwirrt sie wieder sein brüskes Förmlichwerden (der alte
Mann reißt sich gewaltsam zurück, und sie begreift es nur nicht). Man müßte
nachdenken: Was will er von mir, kann es möglich sein? Man müßte das
ausdenken, ruhig zu Ende denken, ganz ruhig und klar denken.
Aber wie und wann hier nachdenken, wie überlegen, man läßt ihr ja keine
Zeit. Kaum zeigt sie sich in der Halle, so ist schon einer da von der heitern
Bande und zerrt sie irgendwohin: ausfahren, fotografieren, spielen, plaudern,
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik