Seite - 77 - in Rausch der Verwandlung
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Bande macht sich lustig über mich. Besser, ich schick’ ihm paar Zeilen
hinunter, ha, so mach ich’s lieber, und die andern Briefe spedier’ ich gleich
mit, damit sie der Portier morgen früh auf die Post gibt … Donnerwetter …
Wo steckt denn das Briefpapier? … Nein, sowas, die Mappe leer, das sollte in
einem so noblen Hotel doch nicht vorkommen … einfach ausgeräumt … Nun,
man kann ja läuten, das Dienstmädchen holt gleich eins herauf … aber kann
man wirklich noch läuten, jetzt nach neun, wer weiß, die schlafen alle schon,
und vielleicht sieht’s sogar komisch aus, man schellt eigens in der Nacht
wegen paar Bogen Papier … besser ich spring’ selbst hinunter und hol’ mir’s
aus dem Schreibzimmer … Wenn ich nur nicht Edwin in den Weg laufe …
Die Tante hat recht, ich sollte ihn nicht so nah an mich heranlassen … Ob er
sich das auch gegen andere erlaubt, wie das heut nachmittag im Auto … die
ganzen Knie entlang, ich verstehe gar nicht, wie ich mir’s hab gefallen lassen
können … Ich hätt eigentlich wegrücken sollen und mir das verbitten … ich
kenne ihn doch erst paar Tage. Aber ganz gelähmt war ich davon …
schrecklich, wie man plötzlich ganz schwach, ganz willenlos wird, wenn ein
Mann einen so anrührt … das hätt’ ich mir nie vorstellen können, daß einen
plötzlich die Kraft ausläßt… Ob andere Frauen auch so sind … nein, das sagt
einem keine, so frech sie sonst reden, so tolle Geschichten sie einem
erzählen … Irgend etwas hätt’ ich doch tun sollen, sonst glaubt er am Ende,
man läßt sich von jedem so anfassen … oder bildet sich ein, man will es
haben … Schauerlich, wie das war, dieses Rieseln die Haut entlang bis in die
Zehen … wenn er das einem jungen Mädel macht, ich verstehe, daß die toll
wird – und wie er mir an den Kurven den Arm plötzlich preßte, schrecklich
wie er … ganz schmale Finger hat er, nie hab ich bei einem Mann so weibisch
gepflegte Nägel gesehen, und doch, wenn er zupackt, fühlt man’s wie eine
eiserne Klammer … ob er das wirklich bei jeder tut… Wahrscheinlich mit
jeder … ich muß ihn wirklich daraufhin beobachten nächstens, wenn er
tanzt… Schrecklich, daß man so gar nichts weiß, jede andere kennt in
meinem Alter sich aus, sie würde sich schon Respekt verschaffen können …
Oder nein, was hat Carla erzählt, wie hier die Türen gehen die ganze Nacht…
ich muß gleich den Riegel vorschieben … Wenn sie nur zu einem aufrichtig
waren, nicht so ein Hin und Her und Dran-Vorbei, wenn man nur wüßte, wie’s
die andern tun, ob’s die auch so packt und wirr macht … Mir ist so etwas nie
passiert! Ja, doch einmal vor zwei Jahren, wie der elegante Herr mich
angesprochen hat auf der Währinger Straße, ganz ähnlich hat er ausgesehen,
auch so hoch und straff … schließlich, es wäre nichts dabei gewesen, ich hätt’
damals, wie er mich eingeladen hat, mit ihm genachtmahlt… alle machen
doch so Bekanntschaft. Aber damals hab’ ich Angst gehabt, ich komm’ zu
spät nach Haus… mein ganzes Leben lang hab’ ich diese dumme Angst
gehabt und hab’ Rücksicht genommen auf jeden, auf alle… und dabei geht
die Zeit weg und man kriegt Falten um die Augenwinkel … Die andern, die
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik