Seite - 86 - in Rausch der Verwandlung
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rückständige Europäer, die immer noch Gesellschaft spielten (die Frau
Geheimrat rückte kampffreudig wie ein Hahn den Kopf) und schließlich nicht
nur Kleider und Geld, sondern auch Bildung und Herkunft forderten.
Selbstverständlich wurde eine heitere Beschreibung des ländlichen Schirms
nicht unterlassen, überhaupt jedes schädlich amüsante Detail der
Nachrichtenstelle zu guten Händen anvertraut. Noch am selben Morgen
begann ihre Geschichte im ganzen Hotel zu zirkulieren, wie jedes Geschwätz
allerhand Schmutz und Geröll bei dem hastigen Lauf aufnehmend. Die einen
erzählten, das machten Amerikaner oft, daß sie besonders um Aristokraten zu
ärgern, irgendeine Stenotypistin als Millionärin aufzäumten, ja, es gebe
darüber sogar ein Theaterstück, andere argumentierten, sie sei wahrscheinlich
die Geliebte des alten Herrn oder seiner Frau, kurzum, die Sache klappte
vorzüglich, und an dem Abend, wo Christine ahnungslos mit dem Ingenieur
die Eskapade machte, war sie im ganzen Hotel Hauptgegenstand des
Gesprächs. Selbstverständlich behauptete jeder, um nicht als der Hopf zu
gelten, hundert Verdächtigkeiten bei ihr bemerkt zu haben, keiner wollte der
Düpierte gewesen sein. Und da das Gedächtnis dem Willen gern dienstbar ist,
bog jeder irgendein Detail, das er gestern an ihr entzückend gefunden hatte,
ins Lächerliche um, und während sie, eingehüllt den warmen jungen Körper
in Glück und die Lippen im Schlaflächeln aufgetan, sich selber noch betrog,
wußten alle bereits um ihren unschuldig-unwilligen Betrug.
Ein Gerücht erreicht immer denjenigen als letzten, mit dem es sich
beschäftigt. Christine spürt nicht, daß sie an diesem Vormittag durch einen
züngelnden Feuerkreis spähender, höhnischer Rückenblicke schreitet.
Gutmütig setzt sie sich gerade an den gefährlichsten Platz, zu der Frau
Geheimrat, ohne zu merken, mit wie bösartigen Fragen die alte Dame – von
allen Ecken schieben die Nachbarn ihre Ohren vor – an ihr herumfingert.
Liebenswürdig küßt sie der weißhaarigen Feindin die Hand, ehe sie Onkel
und Tante zu einem vereinbarten Spaziergang begleitet. Das leise
schmunzelnde Lachen, mit dem einzelne Gäste ihren Gruß erwidern, fällt ihr
nicht weiter auf, warum sollten die Leute anders als fröhlich sein? Aus
sorglosen Augen blickt helle Heiterkeit den Hinterhältigen nach, leicht wie
eine Flamme durch den Saal wehend und selig gläubig an die Güte der Welt.
Auch die Tante merkt zunächst nichts; allerdings ist ihr an diesem
Vormittag etwas unangenehm aufgefallen, doch ahnt sie keinen
Zusammenhang – im Hotel wohnt jenes schlesische Gutsbesitzerpaar, Herr
und Frau von Trenkwitz, die in ihrem Umgang streng auf Feudal und Klasse
setzen und mitleidslos alle Bürgerlichen schneiden. Bei den van Boolens
haben sie eine Ausnahme gemacht, erstens weil sie Amerikaner sind (schon
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik