Seite - 87 - in Rausch der Verwandlung
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dies eine Art Adel) und doch keine Juden, dann vielleicht auch, weil ihr
Zweitältester Sohn Harro, dessen Gut sich unter schwerverzinslicher Last von
Hypotheken beugt, morgen eintreffen soll und dessen Bekanntschaft mit einer
amerikanischen Erbin nicht völlig zwecklos schien. Für diesen Vormittag
haben sie für zehn Uhr mit Frau van Boolen gemeinsamen Spaziergang
verabredet, aber plötzlich (nach eingelangter Information von der
geheimrätlichen Nachrichtenstelle) schicken sie um halb zehn den Portier
ohne jede weitere Motivierung, es sei ihnen leider nicht möglich. Und
merkwürdig, statt diese späte Absage entschuldigend zu motivieren, gehen sie
mittags, steif grüßend, am Tisch der van Boolens vorbei. »Sonderbar«,
argwöhnt sofort Frau van Boolen, in allen gesellschaftlichen Dingen
empfindlich bis zur Krankhaftigkeit, »haben wir sie beleidigt? Was ist da
vorgefallen?« Und abermals merkwürdig, nach dem Mittagessen in der Halle
– Anthony hält seinen Nachtisch-Schlaf – Christine schreibt im
Schreibzimmer – setzt sich niemand zu ihr. Sonst kommen regelmäßig die
Kinsleys oder die andern Bekannten zu gemütlichem Plausch, jetzt bleibt wie
auf Verabredung jeder an seinem Tisch, und sie sitzt ganz verlassen wartend
allein in ihrem tiefen Sessel, merkwürdig berührt, daß alle Freunde nicht
herüberkommen und der aufgeblasene Trenkwitz sich nicht einmal
entschuldigt.
Endlich kommt jemand heran, und auch er anders als sonst, steifbeinig,
umständlich, feierlich, Lord Elkins. Merkwürdig verdeckt hält er die Augen
unter den rötlich müden Lidern – sonst sieht er immer so offen und klar einen
an, was hat er nur? Er verbeugt sich beinahe zeremoniell: »Darf ich mich zu
Ihnen setzen?«
»Aber gern, lieber Lord. Wie fragen Sie nur?«
Sie wundert sich abermals. So unleger ist seine Haltung, er sieht seine
Fußspitzen ausführlichst an, er knöpft den Rock auf, er zieht die Bügelfalten
zurecht; sonderbar, sonderbar. Was er nur hat, denkt sie, er macht, als ob er
eine Festrede halten sollte.
Endlich hebt mit entschlossenem Ruck der alte Mann seine hellen klaren
Augen aus den schweren Lidern, es ist wirklich wie ein Stoß Licht, wie der
Blitz eines Degens.
»Hören Sie, dear Mistress Boolen, ich möchte gern mit Ihnen etwas
Privates besprechen, es hört uns hier niemand. Aber Sie müssen mir Freiheit
geben, ganz aufrichtig zu sein. Ich habe die ganze Zeit nachgedacht, wie ich
die Sache Ihnen andeuten sollte, aber Andeutungen haben keinen Sinn bei
ernsten Angelegenheiten. Persönliche und peinliche Dinge muß man doppelt
scharf und gerade angehen. Also… ich habe das Gefühl, meine Pflicht als
Freund zu tun, wenn ich ganz ohne Rückhalt zu Ihnen spreche. Wollen Sie
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik