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und aller Widerstand nur Kraftvergeudung ist. Außerdem ist es ihm einerlei.
Menschen, die in sich selber ruhn, spüren die Umwelt nicht stark; ob er mit
Linseys oder hier mit Guggenheims seinen Poker macht, ob der Berg vor dem
Fenster Schwarzhorn oder Wetterhorn heißt und das Hotel Palace oder
Astoria, ist dem alten Phlegmatiker im Grunde gleichgiltig, er will nur keinen
Streit. So kämpft er nicht lang, hört geduldig Claire an den Portier
telefonieren und ihm Anweisungen geben, blickt amüsiert zu, wie sie hastig
und hitzig die Koffer hervorholt und mit unbegreiflicher Hast Kleider
zusammenschichtet, zündet seine Pfeife, geht hinüber zu seiner Kartenpartie
und denkt, während er mischt und teilt, nicht weiter an die Abreise und seine
Frau und am wenigsten an Christine.
Während sich im Hotel Verwandte und Fremde über Christines
Gekommensein und Fortsollen schwatzhaft erregen, furcht messingblitzend
das graue Automobil Lord Elkins’ das windige Blau des Hochtals,
geschmeidig und kühn biegt es die weißen Kehren ins Unter-Engadin hinab:
schon nähert sich Schuls-Tarasp. Mit seiner Einladung hat Lord Elkins sie
gewissermaßen öffentlich unter seinen Schutz stellen wollen und nach kurzer
Spazierfahrt wieder zurückbringen; wie er aber sie neben sich sitzen hat,
heiter plaudernd zurückgelehnt, in sorglosen Augen den ganzen Himmel
spiegelnd, scheint es ihm doch sinnlos, ihr und auch ihm eine holde Zeit zu
verkürzen, und er gibt dem Chauffeur Auftrag, noch weiter und weiter zu
fahren. Nur nicht zu rasch zurück, sie wird es immer noch früh genug
erfahren, denkt der alte Mann, während er in unwiderstehlicher Zärtlichkeit
ihre Hand streichelt. Eigentlich sollte man sie rechtzeitig schon warnen, sie
schonend unauffällig vorbereiten, was sie von jener Gesellschaft zu erwarten
hat, damit sie dann ihren plötzlichen Frost nicht so schmerzhaft empfindet. So
versucht er gelegentliche Andeutungen über den bösartigen Charakter der
Geheimrätin und warnt diskret vor ihrer kleinen Freundin; aber mit der
leidenschaftlichen Hellgläubigkeit der Jugend verteidigt die Arglose ihre
grimmigsten Feinde: rührend gut sei sie doch und so anteilnehmend an allem,
die alte Geheimrätin, und die kleine Mannheimerin, das ahnte Lord Elkins gar
nicht, wie klug und lustig und witzig die sein könne, sie habe wohl zu wenig
Mut in seiner Gegenwart. Überhaupt, alle Menschen hier seien so wunderbar,
so heiter und wohlwollend zu ihr, wahrhaftig, sie schäme sich manchmal, wie
käme ihr denn all dies zu.
Der alte Mann sieht nieder auf die Spitze seines Stockes. Seit dem Krieg
denkt er hart von den Menschen, hart von den Nationen, weil er sie alle als
selbstsüchtig und phantasielos für das Unrecht, das sie andern bereiteten,
erkannt hat. In dem blutigen Morast von Ypern und in einer Kalkgrube bei
Soissons (wo sein Sohn gefallen ist), liegt auch der von den Vorlesungen John
Stuart Hills und seiner Schüler mitgenommene Idealismus seiner Jugend, der
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik