Seite - 97 - in Rausch der Verwandlung
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an die moralische Sendung der Menschheit und an den Seelenaufschwung der
weißen Rasse glaubte, endgiltig begraben. Politik ekelt ihn, die kühle
Geselligkeit des Klubs, die theatralische Verlegenheit der öffentlichen
Bankette stoßen ihn ab; seit dem Tod seines Sohnes vermeidet er, neue
Bekanntschaften zu machen; bei seiner eigenen Generation erbittert ihn das
verbissene Nicht-die-Wahrheit-Erkennenwollen, der Mangel an
Umlernfähigkeit vom Vorkrieg in die neue Zeit, bei der jungen Generation das
frech leichtfertige Besserwissenwollen. Bei diesem Mädchen hat er zum
erstenmal wieder Gläubigkeit gesehen, jene dumpfe und heilige Dankbarkeit
schon bloß für die Tatsache des Jungseins, und er versteht in ihrer Gegenwart,
daß alles Lebensmißtrauen, das eine Generation schmerzhaft erwirbt,
glücklicherweise unverständlich und ungiltig bleibt für die nächste und mit
jeder neuen Jugend wieder neu beginnt. Wie wunderbar kann sie noch
dankbar sein für das Geringste, fühlt er entzückt und gleichzeitig regt sich,
stärker als jemals und fast schmerzhaft, leidenschaftlich der Wunsch, etwas
von dieser herrlichen Wärme in sein eigenes Leben nehmen zu dürfen,
vielleicht sie ganz an sich zu binden. Ein paar Jahre, denkt er, könnte ich sie
schützen, vielleicht würde sie dann nie oder spät erst die Niederträchtigkeit
der Welt erfahren, die vor dem einen Namen buckelt und den Armen mit dem
Absatz tritt. Ah – er blickt sie von der Seite an: sie hat den Mund eben
kindhaft aufgetan und saugt die herrlich ansausende Luft, und dabei schließt
sie die Augen – ein paar Jahre Jugend nur, es wäre genug für mich. Und
während sie jetzt wieder, dankbar ihm zugewandt, munter plaudert, hört der
alte Mann nur halb ihr zu, denn ein plötzlicher Mut ist über ihn gekommen; er
erwägt, wie auf unauffälligste Weise noch in dieser vielleicht letzten Stunde
eine Werbung zu versuchen.
In Schuls-Tarasp nehmen sie Tee. Dann auf einer Bank der Promenade setzt
er vorsichtig und umwegig ein. Er habe zwei Nichten, etwa so alt wie sie, in
Oxford, dort könne sie, vorausgesetzt, daß sie nach England kommen wolle,
wohnen; es sei eine Freude für ihn, sie zu ihnen einladen zu dürfen, und wenn
dann auch seine Gesellschaft, freilich die eines alten Mannes, ihr nicht lästig
sei, würde er glücklich sein, ihr London zeigen zu dürfen. Nur wisse er
natürlich nicht, ob sie sich überhaupt entschließen könne, von Österreich
wegzugehen und nach England zu kommen, ob nichts sie zu Hause binde – er
meine: innerlich binde. Die Frage ist deutlich. Aber Christine in ihrer
sprudelnden Begeisterung versteht sie nicht. O nein, wie gerne würde sie die
Welt sehen, und England solle ja herrlich sein, sie habe so viel gehört von
Oxford und seinen Regatten, es gäbe ja kein Land, wo der Sport solche Lust,
wo es so prachtvoll sein müsse, jung zu sein.
Das Gesicht des alten Mannes verdüstert sich. Sie hat kein Wort von ihm
gesprochen. Nur an sich gedacht, nur an ihr eigenes Jungsein. Er verliert
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik