Seite - 98 - in Rausch der Verwandlung
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wieder allen Mut. Nein, denkt er, es wäre ein Verbrechen, einen jungen
Menschen, der seine Kraft so selig spürt, in ein altes Schloß zu sperren, zu
einem alten Mann. Nein, nicht sich abweisen lassen, nicht lächerlich werden.
Nimm Abschied, alter Mann! Vorbei! Zu spät!
»Wollen wir nicht zurückfahren«, fragt er mit plötzlich veränderter
Stimme. »Ich fürchte, Ihre Frau Tante wird sonst besorgt sein.«
»Gern«, antwortet sie, und dann begeistert: »Ach, es ist so schön gewesen,
alles ist hier so einzig schön.«
Er setzt sich im Wagen an ihre Seite und spricht wenig mehr, der alte
Mann, traurig für sie, traurig für sich. Aber sie ahnt nicht, was in ihm, und
nicht, was mit ihr geschieht, hell den Blick in die Landschaft hinaus und das
Blut froh bewegt unter den windumsausten Wangen.
Als sie vor dem Hotel landen, schlägt gerade der Gong. Dankbar drückt sie
dem verehrten Mann die Hand und springt hinauf, um sich umzuziehen: das
fliegt ihr jetzt schon so aus dem Gelenk. In den ersten Tagen ist das
Toilettemachen ihr eine jedesmalige Angst, eine Anstrengung, eine Sorge und
doch gleichzeitig lustvolles erregendes Spiel gewesen. Immer wieder hat sie
im Spiegel das geschmückte unerwartete Wesen bestaunt, in das sie
verwandelt war. Nun weiß sie schon als Selbstverständlichkeit, daß sie
allabends schön ist, elegant und geschmückt. Ein paar Griffe jetzt und das
Kleid fließt farbig und leicht über die gespannte Brust, ein sicherer
Strich über die roten Lippen, zurechtgeschütteltes Haar, ein umgeworfener
Schal und sie ist fertig, so selbstverständlich lebt sie schon in dem geliehenen
Luxus wie in der eigenen Haut! Noch einen Blick über die halbe Schulter
hinweg in den Spiegel: ja, gut! Zufrieden! Und schon saust sie hinüber zur
Tante, sie zum Abendessen zu holen.
Aber gleich bei der Tür bleibt sie verblüfft stehen: ein verwüstetes Zimmer,
vollkommen ausgeräumt, halbgefüllte Koffer, über Sessel gespreizt auf Bett
und Tisch verstreut Hüte, Schuhe und sonstige Kleidungsstücke, heilloses
Durcheinander in dem sonst minuziös geordneten Raum. Die Tante kniet
gerade im Schlafrock über einem widerspenstigen Koffer, um ihn
zuzupressen. »Was … was ist denn?« staunt Christine. Die Tante blickt mit
Absicht nicht auf, sondern drückt erbittert mit rotem Gesicht auf den Koffer
weiter, während sie zugleich stöhnend erklärt: »Wir reisen … oh, verfluchtes
Ding!… Wirst du zugehen … wir reisen fort.«
»Ja, wann? … Wie?« Der Mund springt Christine auf, sie kann keinen
Muskel rühren.
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Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik