Seite - 104 - in Rausch der Verwandlung
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einmal die Wände zu schwanken, der Teppich zu laufen, die Kronleuchter in
wilden Ellipsen zu schwingen. Ich falle, spürt sie, der Boden schwankt weg
unter mir. Instinktiv greift sie noch mit der rechten Hand in eine Portiere und
rettet ihr Gleichgewicht. Aber die Kraft ist aus den Gelenken fort. Sie kann
nicht mehr vor und nicht zurück. Starren, angestrengten Blicks, die ganze
Schwere des Leibs an die Wand gelehnt, die Augen geschlossen, steht und
atmet sie und weiß nicht weiter.
In diesem Augenblick stößt der deutsche Ingenieur auf sie, Fotografien hat
er gerade rasch aus seinem Zimmer holen wollen, um sie einer Dame zu
zeigen, da erblickt er an die Wand gedrückt, regungslos und gleichzeitig
schwer atmend, mit offenen und doch blinden Augen die merkwürdig
hingelehnte Gestalt; im ersten Augenblick erkennt er sie nicht. Aber dann
bekommt seine Stimme sofort wieder den vergnügt burschikosen Ton. »Da
sind Sie ja! Warum kommen Sie denn nicht in die Halle? Oder spüren Sie
Geheimnissen heimlich nach? Und warum … aber … was ist denn … Was
haben Sie denn … ?« Er starrt sie überrascht an. Beim ersten Wort ist
Christine zusammengefahren und zittert am ganzen Leib genau wie eine
Schlafwandlerin, die ein unerwarteter Ruf wie ein Schuß trifft.
Ihre Augenbrauen, schreckhaft hochgezogen, geben ihrem Blick etwas
Aufgerissenes und Krampfiges, wie um einen Schlag abzuwehren, hebt sie
die Hand.
»Was haben Sie? Ist Ihnen nicht wohl?« Dabei stützt er sie, und es ist
höchste Zeit, denn Christine schwankt merkwürdig. Blau ist ihr plötzlich vor
den Augen. Aber wie sie seinen Arm fühlt, menschlich warme Berührung,
zuckt sie sofort fiebrig auf.
»Ich muß Sie sprechen … sofort sprechen … aber nicht hier … nicht hier
vor den andern … Allein muß ich Sie sprechen.« Sie weiß nicht, was sie ihm
sagen soll, nur sprechen, mit irgendeinem Menschen sprechen, sich
ausschreien.
Der Ingenieur, von der schrillen Art ihrer sonst so ruhigen Stimme etwas
peinlich verblüfft, denkt: sie ist wahrscheinlich krank, man hat sie ins Bett
gesteckt, darum kam sie nicht herab, und sie ist heimlich wieder aufgestanden
– sicher hat sie Fieber, man merkt’s an den glänzenden Augen. Oder ein
hysterischer Anfall, man hat ja allerhand erlebt mit Frauen – jedenfalls zuerst
beruhigen, beruhigen, nicht merken lassen, daß man sie für krank hält,
scheinbar eingehen auf alles.
»Aber gern, gern, Fräulein« – wie ein Kind spricht er ihr zu – »nur
vielleicht … « (Besser man sieht uns nicht) »vielleicht gehen wir paar Schritte
hinaus vor das Hotel … in die frische Luft … Es wird Ihnen sicher gut tun …
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik