Seite - 106 - in Rausch der Verwandlung
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vielleicht werden sich ihre Verwandten es noch überlegen, und im nächsten
Jahr … Aber Christine hört gar nicht, denkt gar nicht, nur ihr Schmerz muß
heraus, wild, vehement, ganz laut mit gestampftem Fuß, die Wut eines
hilflosen Kindes. »Aber ich will nicht! Ich will nicht … Ich gehe jetzt nicht
nach Hause … was soll ich dort, ich kann es nicht ertragen mehr … ich kann
nicht … ich gehe zugrunde … ich werde wahnsinnig dort … Ich schwöre es
Ihnen, ich kann nicht, ich kann nicht, und ich will nicht … Helfen Sie mir …
Helfen Sie mir!«
Es ist der Schrei eines Ertrinkenden aus dem Wasser, grell und schon halb
erstickt, denn jetzt überschwemmt plötzlich die Stimme, und so furchtbar
schüttelt sie der losgebrochene Weinkrampf, daß er bis in seinen Körper die
zuckenden Stöße spürt. »Nicht«, bittet er, gegen seinen Willen gerührt. »Nicht
weinen! Nicht so weinen!« Und um sie zu beruhigen, zieht sein Arm sie
unwillkürlich näher heran. Sie gibt nach und lehnt schlaff und schwer an
seiner Brust. Aber nichts von Lust ist in diesem Hinsinken, nur grenzenlose
Erschöpfung, nur namenloses Müdesein. Nur daß sie sich anlehnen kann an
den lebendigen Leib eines Menschen, spürt sie, und daß irgendeine Hand über
ihr Haar streicht, daß sie nicht so gräßlich, so ratlos allein und weggestoßen
ist. Allmählich wird ihr Schluchzen schwächer, innerlicher, nicht mehr diese
elektrisch zuckenden Stöße, sondern leise ausströmendes Weinen.
Dem fremden Mann ist es sonderbar. Da steht er plötzlich im Schatten des
Waldes und doch nur zwanzig Schritte vom Hotel (jeden Augenblick kann
man sie sehen, kann jemand vorbeikommen) und hält ein junges
schluchzendes Mädchen im Arm, wie eine Welle warm wogend spürt er ihre
hingegebene Brust. Mitleid überkommt ihn, und Mitleid eines Mannes zu
einer leidenden Frau ist immer unwillkürlich Zärtlichkeit. Nur
beruhigen, denkt er, nur beruhigen! Mit der freien Linken (noch immer hält
sie seine Rechte, damit sie nicht falle) streicht er ihr wie magnetisierend über
das Haar. Und damit das Schluchzen leiser werde, neigt er sich hinüber und
küßt das Haar, dann die Schläfen und schließlich den zuckenden Mund. Da
bricht etwas aus ihr unsinnig heraus.
»Nehmen Sie mich mit, nimm mich mit… Fahren wir fort… wohin Sie
wollen … wohin du willst … nur fort hier und nicht wieder zurück… nicht
nach Hause zurück … Ich ertrage es nicht … Überallhin, nur nicht zurück …
Alles, nur nicht zurück … Wohin Sie wollen, wie lange Sie wollen … Nur
fort, nur fort!« In ihrem wilden Fieber rüttelt sie an ihm wie an einem Baum.
»Nimm mich mit!«
Der Ingenieur erschrickt. Abstoppen, denkt der praktisch gesinnte Mann,
jetzt nur rasch und energisch abstoppen. Sie irgendwie beruhigen, sie
zurückführen ins Hotel, sonst wird die Sache peinlich.
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik