Seite - 107 - in Rausch der Verwandlung
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»Ja, Kind«, sagt er. »Gewiß, Kind … man darf nur nichts übereilen … wir
werden das alles noch besprechen. Überlegen Sie noch bis morgen …
vielleicht entschließen sich auch Ihre Verwandten noch anders, und es tut
ihnen leid … morgen sehen wir alles klarer.« Aber sie bebt dringend: »Nein,
nicht morgen, nicht morgen! Morgen muß ich schon weg, in der Früh muß ich
schon weg, schon in der Früh … Sie stoßen mich ja fort … wie ein Postpaket,
schnell, schnell, express spedieren sie mich … Und ich lasse mich nicht so
wegschicken… Ich lasse mich nicht … « Und ihn heftiger anfassend:
»Nehmen Sie mich mit … sofort, sofort … helfen Sie mir … Ich … ich
ertrage es nicht mehr.«
Man muß ein Ende machen, überlegt der Ingenieur. Nur sich in nichts
einlassen. Sie ist nicht bei Sinnen, sie weiß nicht, was sie redet. »Ja, ja, ja,
mein Kind«, streichelt er ihr übers Haar, »selbstverständlich, ich verstehe
ja … wir werden das alles jetzt drinnen besprechen, nicht hier, hier dürfen
Sie nicht länger bleiben … Sie könnten sich erkälten … ohne Mantel in dem
dünnen Kleid … Kommen Sie nur, wir gehen jetzt hinein und setzen uns in
die Halle … « Dabei löst er vorsichtig seinen Arm. »Kommen Sie jetzt,
Kind.«
Christine starrt ihn an. Mit einmal stockt das Schluchzen. Sie hat nichts
gehört und begriffen, was er sagt. Aber mitten in ihrer sinnlosen
Verzweiflung, in seiner zuckenden Unbewußtheit hat ihr Körper gespürt, daß
der warme zärtliche Arm sich von ihr ängstlich löst. Der Körper hat zuerst
verstanden, was jetzt erst der Instinkt und nach ihm das Gehirn schreckhaft
erkennt, daß dieser Mann sich von ihr zurückzieht, feige ist, vorsichtig und
sich fürchtet, daß alles sie hier weg haben will, alles. Sie wacht auf aus ihrer
Trunkenheit, ein Ruck und sie sagt kurz und scharf: »Danke. Danke, ich gehe
schon allein. Entschuldigen Sie, mir war nur einen Augenblick nicht ganz
wohl, die Tante hat recht, mir tut die hohe Luft hier nicht gut.«
Er will etwas sagen. Aber ohne sich um ihn zu kümmern, geht sie mit
harten Schultern heftig voraus. Nur sein Gesicht nicht mehr sehen, niemand
mehr sehen, niemand mehr sehen, fort, fort, fort, vor keinem dieser
hochmütigen, feigen, satten Menschen mehr sich erniedrigen, fort, fort, fort,
nichts mehr nehmen von ihnen, nichts mehr sich schenken lassen, nicht mehr
sich täuschen lassen, nicht mehr an sie sich verraten, an niemanden, an
keinen, fort, fort, fort, lieber krepieren, lieber im Winkel verrecken. Und
während sie das vergötterte Haus, die geliebte Halle durchschreitet, an den
Menschen vorbei wie an geschmückten bemalten Steinen, spürt sie nur eines
mehr: Haß gegen ihn, gegen jeden hier, gegen alle.
Die ganze Nacht bleibt Christine regungslos auf dem Sessel vor dem Tisch
sitzen. Ihre Gedanken gehen dumpf im Kreise, um das einzige Gefühl herum,
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Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik