Seite - 109 - in Rausch der Verwandlung
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und Erfrieren Stück für Stück, und sie sitzt starr, als horche sie in sich selbst
hinein, wann das pochende, heiße van Boolen-Herz endlich aufhört, in ihr zu
hämmern. Nach tausend Jahren kommt der Morgen. In den Gängen fegen
hörbar die Diener, unten scharrt der Gärtner den Kies zurecht: es beginnt
unausweichlich wirklicher Tag, das Ende, die Reise. Jetzt heißt es einpacken,
wegfahren, die andere sein, die Postassistentin Hoflehner aus Klein-Reifling
und jene vergessen, deren Atem hier in kleinen dünnen Wellen um die
verlorenen Köstlichkeiten schwang.
Beim Aufstehen spürt Christine erst die Erstarrtheit in ihren Gliedern und
eine taumelige Müdigkeit des Körpers: die vier Schritte bis zum Kasten hin
sind Reise von einem Kontinent zum andern. Mühsam, die toten Gelenke
haben keine Kraft, öffnet sie die Kastentür, sofort erschreckt: wie ein
Gehenkter, fahl, weißfarben und schlenkrig baumelt dort der Klein-Reiflinger
Rock mit der verhaßten Bluse, in der sie gekommen; als die Finger ihn von
der Stange heben, schauert sie in jenem widrigen Grauen, mit dem man etwas
Verwestes angreift: in diesen toten Menschen Hoflehner sollte sie wieder
hinein! Aber es bleibt keine Wahl. Rasch reißt sie das Abendkleid ab, leicht
wie seidiges Papier knistert es ihre Hüften hinab, und weglegt sie Stück für
Stück die andern Kleider, die Wäsche, den Sweater, die Perlenschnur, die
zehn oder zwanzig bezaubernden Dinge, die sie empfangen: nur das
ausdrückliche Geschenk nimmt sie mit, eine Handvoll, die leicht in das
ärmliche Strohköfferchen geht. Es ist rasch gepackt.
Fertig! Noch einmal blickt sie sich prüfend um. Auf dem Bett liegen die
Abendkleider, die Tanzschuhe, der Gürtel, das rosa Hemd, der Sweater, die
Handschuhe, so wirr und quer durcheinander, als wäre durch eine Explosion
das phantasmagorische Wesen, Fräulein von Boolen, in hundert Stücke
zerrissen worden. Zitternd vor Grauen starrt Christine auf die Reste des
Phantoms, das sie selber gewesen. Dann blickt sie sich um, ob noch etwas
vergessen sei, etwas, das noch ihr gehört. Aber nichts gehört mehr ihr: andere
werden hier schlafen in diesem Bett, andere durch dieses Fenster die goldene
Landschaft sehen, andere sich spiegeln in diesem geschliffenen Glas, sie nie
mehr, nie mehr! Es ist kein Abschied, es ist eine Art Tod.
Die Gänge liegen noch leer, als sie hinaustritt, den alten kleinen Koffer in
der Hand. Automatisch geht sie zur Treppe. Aber in ihrem armen Kleid ist ihr,
als habe sie, Christine Hoflehner, kein Recht mehr, diese
teppichbelegten, messingeingefaßten Stufen, die Herrschaftstreppe
hinabzugehen: scheu geht sie lieber die gewundene eiserne Dienertreppe
neben dem Klosett hinab. In der grauen, halbaufgeräumten Halle unten
taumelt der eingenickte Nachtportier mißtrauisch auf. Was war denn das? Ein
Mädchen, mittelmäßig oder eher schlecht gekleidet, einen schäbigen Koffer in
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik