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Rausch der Verwandlung
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abgewendetem Blick sieht sie vorbei an den Tennisplätzen, wo – sie weiß es – bronzefarben, mit weißen leuchtenden Kleidern, die Zigarette im Mund, andere heute ihre leichten gelenkigen Glieder eitel umjagen werden; vorbei an den noch geschlossenen Läden mit tausend Kostbarkeiten (für andere, für andere!), an den Hotels und Bazaren und Konditoreien, vorbei in ihrem billigen Regenmantel und ihrem alten Schirm, zum Bahnhof, zum Bahnhof. Nur fort, nur fort. Nur nichts mehr sehen, nur sich an nichts mehr erinnern. Im Bahnhof versteckt sie sich in den Wartesaal dritter Klasse; hier in der ewigen dritten Klasse, überall gleich in der Welt, mit ihren ungepolsterten Bänken, mit ihrer armen Gleichgiltigkeit, fühlt sie sich schon halb daheim, und erst wie der Zug einrollt, geht sie hastig hinaus: niemand soll sie sehen, niemand kennen. Aber da – ist es nicht Halluzination? – hört sie plötzlich ihren Namen: Hoflehner, Hoflehner. Jemand schreit hier (ist es möglich!) ihren Namen, den verhaßten, den ganzen Zug entlang. Sie zittert. Will man sie noch höhnen zum Abschied? Aber deutlich wiederholt sich der Ruf, so beugt sie sich zum Fenster hinaus: da steht der Portier und schwenkt ein Telegramm in der Hand. Sie müsse entschuldigen, es sei schon gestern abends gekommen, aber der Nachtportier hätte nicht gewußt wohin damit, er habe erst jetzt erfahren, daß das Fräulein abreise. Christine öffnet. »Plötzliche Verschlechterung, kommet sofort, Fuchsthaler.« Und dann fährt der Zug … es ist vorbei. Alles ist vorbei. Jede Materie trägt bestimmtes Maß der Spannung in sich, über die hinaus sie Steigerung nicht mehr zuläßt, das Wasser seinen Siedepunkt, die Metalle ihren Schmelzpunkt, und auch die Elemente der Seele entgehen nicht diesem unumstößlichen Gesetz. Freude kann einen Grad erreichen, in dem jedes Dazu nicht mehr fühlbar wird, und ebenso Schmerz, Verzweiflung, Niedergeschlagenheit, Ekel und Angst. Einmal bis zum Rande gefüllt nimmt das innere Gefäß keinen Tropfen Welt mehr in sich hinein. So empfindet Christine bei jenem Telegramm keinerlei neuen Schmerz. Oben im Bewußtsein versteht sie zwar deutlich, jetzt müßte ich doch erschrecken, mich ängstigen, mich sorgen, aber trotz dieser Anschaltung vom wachen Gehirn her funktioniert nicht das Gefühl: es nimmt die Mitteilung nicht zur Kenntnis, es antwortet nicht. Es ist, wie wenn ein Arzt mit einer Nadel in ein abgestorbenes Bein sticht: der Kranke sieht die Nadel, er weiß genau, sie ist spitz und glühend: jetzt da sie eindringt, muß es sofort weh tun, fürchterlich weh, und er spannt sich schon, in einem Riß der Qual alle Gelenke zusammenzureißen. Aber die glühende Nadel dringt ein, und doch, weil abgestorben, antwortet der Nerv nicht, und mit Grauen erkennt der Gelähmte, daß da unten in seinem Leib etwas völlig empfindungslos ist, daß 111
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Rausch der Verwandlung
Titel
Rausch der Verwandlung
Autor
Stefan Zweig
Datum
1982
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
204
Kategorien
Weiteres Belletristik
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