Seite - 112 - in Rausch der Verwandlung
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er ein Stück Tod in seinem eigenen warmen Leib mitträgt. Dieses Grauen
empfindet Christine, abermals und abermals das Blatt überlesend, vor ihrer
eigenen Gleichgiltigkeit. Die Mutter ist krank, gewiß steht es verzweifelt mit
ihr, sonst hätten die Sparsamen nicht so viel Geld an ein Telegramm gewagt.
Sie ist vielleicht schon tot, wahrscheinlich sogar. Aber kein Finger bebt bei
diesem Gedanken (der sie gestern noch hingeschmettert hätte) an ihrer Hand,
und jener Muskel, der das Tränenwasser zwischen die Lider pumpt, hebt
seinen Hebel nicht. Alles bleibt starr, und diese Starre geht von ihr über auf
alles um sie. Daß der Zug mit klirrenden Takten unter ihr läuft, spürt sie nicht,
daß auf der Holzbank gegenüber rotbackige Männer sitzen, Wurst essen und
lachen, daß am Fenster vorbei immer neue Felsen aufspringen und sich
wieder bücken zu kleinen blumigen Hügeln und ihre Füße baden in der
weißsprühenden Bergmilch – all diese Prospekte, bei der ersten Fahrt als
lebendigste Gestaltung empfunden und alle Sinne erregend, stehen jetzt starr
vor ihrem erstarrten Auge. Erst als an der Grenze der Paßbeamte mit seiner
Behelligung sie aufrüttelt, empfindet der Körper ein Gefühl: etwas Heißes
trinken. Etwas, das diese fürchterliche Erfrorenheit ein wenig auftaut, das die
verklemmte und wie verschwollene Kehle auflockert, daß man endlich atmen
kann, endlich alles aus sich herausstöhnen.
Sie geht zum Buffet, trinkt ein Glas Tee mit heißem Rum. Das geht scharf
ins Blut, selbst die starren Zellen oben im Gehirn belebend: sie kann wieder
denken, und sofort fällt ihr ein, sie müsse nach Hause ihre Ankunft
telegrafieren. Gleich rechts um die Ecke, sagt der Portier, und ja, ja, sie habe
noch reichlich Zeit.
Christine sucht den Schalter. Die Glasscheibe war herabgelassen. Sie
klopft. Ein Schritt von innen schlurft mißmutig langsam heran, die Scheibe
klirrt hoch. »Was wünsche Sie?« fragt ein verdrossenes, graues, bebrilltes
Frauengesicht. Christine kann nicht gleich antworten, so ist sie erschrocken.
Denn ihr ist, diese verknöcherte, verwitterte alte Jungfer mit der Stahlbrille
vor den abgematteten Augen, mit den pergamentenen Fingern, die jetzt
automatisch das Formular herausreichen, das sei sie selbst in zehn, in zwanzig
Jahren, ein Teufelsspiegel habe ihr sie selbst als ihr Postassistentin-Gespenst
gezeigt; kaum kann sie schreiben, so bebt ihr die Hand. Das bin ich, das
werde ich sein, schauert sie immerzu, immer wieder hinüberschielend zu der
dürren fremden Frau, die geduldig gebückt vor dem Pult wartet, den Bleistift
in der Hand – oh – sie kennt diese Geste, diese öden Minuten, und wie man
abstirbt an einer jeden, um dann nutzlos alt zu werden, glücklos und
verbraucht wie dies Spiegelgespenst. Mit zuckenden Knien schleppt Christine
sich wieder in den Zug zurück. Kalter Schweiß perlt ihr über die Stirn wie
einem, der im Traum sich im Sarge aufgebahrt hat liegen sehn, und mit einem
großen Angstschrei erwacht ist.
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Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik