Seite - 113 - in Rausch der Verwandlung
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In St. Pölten, müde von schlafloser Nachtfahrt, holt Christine ihre
schmerzenden Glieder aus dem Zug heraus, da eilt schon quer über das
Geleise der Aussteigenden jemand entgegen: der Lehrer Fuchsthaler, er muß
die ganze Nacht hier gewartet haben. Beim ersten Blick weiß Christine alles –
er trägt schwarzen Rock, schwarze Krawatte, und wie sie ihm jetzt die Hand
reicht, schüttelt er sie teilnehmend, unter der Brille blicken hilflos gerührt
seine Augen ihr entgegen. Christine fragt gar nicht mehr, seine Befangenheit
hat alles gesagt. Aber merkwürdig, es erschüttert sie nicht. Sie spürt weder
Schmerz noch Ergriffenheit, noch Überraschung. Die Mutter ist gestorben.
Vielleicht ist es gut, gestorben zu sein.
Im Personenzug nach Klein-Reifling erzählt Fuchsthaler umständlich und
rücksichtsvoll von den letzten Stunden der Mutter. Übernächtig sieht er aus,
grau im grauen Morgen, voll Stoppeln das unrasierte Gesicht, die Kleider
staubig und verdrückt. Jeden Tag war er dreimal, viermal bei der Mutter um
ihretwillen, die Nächte hat er gewacht um ihretwillen. Rührender Freund,
denkt sie im stillen. Wenn er doch schon nur aufhören wollte, ruhig sein, ihr
Ruhe lassen, nicht mit dieser sentimental umflorten Stimme hinter gelben,
schlechtplombierten Zähnen unaufhörlich auf sie lossprechen; ein
körperlicher Widerwille faßt sie gegen den früher so sympathischen Mann,
ein Widerwille, dessen sie sich vergeblich schämt und den sie doch als Galle
auf den Lippen schmeckt.
Ohne daß sie vergleichen will, vergleicht sie ihn doch mit den Männern
droben, diesen schlanken, gebräunten, gesunden, geschmeidigen Kavalieren
mit den gepflegten Händen, den taillierten Röcken, und mit einer Art böser
Neugier betrachtet sie die lächerlichen Einzelheiten seiner Traueraufmachung,
den sichtlich gewendeten schwarzen Rock mit den ausgewetzten Ellenbogen,
die fertig gekaufte schwarze Krawatte über dem schmutzigen billigen Hemd.
Unerträglich kleinbürgerlich, zum Schreien lächerlich scheint ihr mit einmal
dies schwarz angezogene dünne Männchen, dieser Dorfschulmeister mit
seinen blassen abstehenden Ohren, seinem falschgezogenen, spärlichen
Scheitel, seiner stählernen Brille über den blaßblauen und rotgeränderten
Augen, dies Spitzmausgesicht aus Pergament über dem zerdrückten gelben
Zelluloidkragen. Und der wollte … der … Nie, denkt sie, nie! Unmöglich sich
von ihm berühren zu lassen, sich hinzugeben an die unkühne, unwürdige,
zittrige Zärtlichkeit eines solchen verkleideten Pfarramtskandidaten,
unmöglich! Schon bei dem bloßen Gedanken steigt ihr Ekel derart quellend in
die Kehle, daß ihr ist, als müßte sie sich erbrechen.
»Was haben Sie?« unterbricht Fuchsthaler besorgt. Er hat bemerkt, daß ein
plötzliches Zucken ihren Körper überläuft.
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Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik