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Rausch der Verwandlung
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In St. Pölten, müde von schlafloser Nachtfahrt, holt Christine ihre schmerzenden Glieder aus dem Zug heraus, da eilt schon quer über das Geleise der Aussteigenden jemand entgegen: der Lehrer Fuchsthaler, er muß die ganze Nacht hier gewartet haben. Beim ersten Blick weiß Christine alles – er trägt schwarzen Rock, schwarze Krawatte, und wie sie ihm jetzt die Hand reicht, schüttelt er sie teilnehmend, unter der Brille blicken hilflos gerührt seine Augen ihr entgegen. Christine fragt gar nicht mehr, seine Befangenheit hat alles gesagt. Aber merkwürdig, es erschüttert sie nicht. Sie spürt weder Schmerz noch Ergriffenheit, noch Überraschung. Die Mutter ist gestorben. Vielleicht ist es gut, gestorben zu sein. Im Personenzug nach Klein-Reifling erzählt Fuchsthaler umständlich und rücksichtsvoll von den letzten Stunden der Mutter. Übernächtig sieht er aus, grau im grauen Morgen, voll Stoppeln das unrasierte Gesicht, die Kleider staubig und verdrückt. Jeden Tag war er dreimal, viermal bei der Mutter um ihretwillen, die Nächte hat er gewacht um ihretwillen. Rührender Freund, denkt sie im stillen. Wenn er doch schon nur aufhören wollte, ruhig sein, ihr Ruhe lassen, nicht mit dieser sentimental umflorten Stimme hinter gelben, schlechtplombierten Zähnen unaufhörlich auf sie lossprechen; ein körperlicher Widerwille faßt sie gegen den früher so sympathischen Mann, ein Widerwille, dessen sie sich vergeblich schämt und den sie doch als Galle auf den Lippen schmeckt. Ohne daß sie vergleichen will, vergleicht sie ihn doch mit den Männern droben, diesen schlanken, gebräunten, gesunden, geschmeidigen Kavalieren mit den gepflegten Händen, den taillierten Röcken, und mit einer Art böser Neugier betrachtet sie die lächerlichen Einzelheiten seiner Traueraufmachung, den sichtlich gewendeten schwarzen Rock mit den ausgewetzten Ellenbogen, die fertig gekaufte schwarze Krawatte über dem schmutzigen billigen Hemd. Unerträglich kleinbürgerlich, zum Schreien lächerlich scheint ihr mit einmal dies schwarz angezogene dünne Männchen, dieser Dorfschulmeister mit seinen blassen abstehenden Ohren, seinem falschgezogenen, spärlichen Scheitel, seiner stählernen Brille über den blaßblauen und rotgeränderten Augen, dies Spitzmausgesicht aus Pergament über dem zerdrückten gelben Zelluloidkragen. Und der wollte … der … Nie, denkt sie, nie! Unmöglich sich von ihm berühren zu lassen, sich hinzugeben an die unkühne, unwürdige, zittrige Zärtlichkeit eines solchen verkleideten Pfarramtskandidaten, unmöglich! Schon bei dem bloßen Gedanken steigt ihr Ekel derart quellend in die Kehle, daß ihr ist, als müßte sie sich erbrechen. »Was haben Sie?« unterbricht Fuchsthaler besorgt. Er hat bemerkt, daß ein plötzliches Zucken ihren Körper überläuft. 113
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Rausch der Verwandlung
Titel
Rausch der Verwandlung
Autor
Stefan Zweig
Datum
1982
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
204
Kategorien
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