Web-Books
im Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Weiteres
Belletristik
Rausch der Verwandlung
Seite - 120 -
  • Benutzer
  • Version
    • Vollversion
    • Textversion
  • Sprache
    • Deutsch
    • English - Englisch

Seite - 120 - in Rausch der Verwandlung

Bild der Seite - 120 -

Bild der Seite - 120 - in Rausch der Verwandlung

Text der Seite - 120 -

sie gesessen hat, tausendmal den tintenfleckigen Tisch, auf dem sie ihre Papiere zusammenlegt, tausendmal die Glasscheibe, die sie jetzt zum Beginn der Dienststunde emporschiebt. Und an der Uhr sieht sie zum erstenmal, daß sie nicht vorwärts geht, sondern im Kreise läuft, von zwölf bis eins, von eins bis zwei und wieder weiter bis zwölf und von eins zu zwei und wieder zurück auf zwölf, immer den gleichen Weg, ohne einen Schritt weiterzukommen, immer neu aufgezogen für den Dienst, ohne je frei zu werden, immer eingekerkert in dasselbe rechteckige braune Gehäuse. Und wenn Christine sich niedersetzt morgens um acht Uhr, ist sie müde – müde nicht von irgend etwas Vollbrachtem und Geleistetem, sondern müde schon im voraus alles dessen, was kommen wird, immer die gleichen Gesichter, die gleichen Fragen, die gleichen Handgriffe, das gleiche Geld. Nach einer Viertelstunde bringt exakt der Briefträger Andreas Hinterfellner, grauhaarig, aber immer vergnügt, die Briefpost zum Sortieren. Früher hat sie es mechanisch getan, jetzt sieht sie lange die Briefe und Ansichtskarten an, besonders jene, die für das Schloß der Gräfin Gütersheim bestimmt sind. Sie hat drei Töchter, die eine ist verheiratet an einen italienischen Baron, die beiden Komtessen sind ledig und fahren viel in der Welt herum. Aus Sorrent sind die neuesten Karten, blaues Meer, im blühenden Bogen weit hinein ins Land geschwungen. Die Adresse Hôtel de Rome. Christine versucht sich das Hôtel de Rome vorzustellen und sucht es auf der Karte. Das Zimmer ist angekreuzt von der Komtesse, mitten zwischen Gärten, weiß leuchtend mit breiten Terrassen, von einem Spalier von Orangenbäumen umgeben. Unwillkürlich muß sie daran denken, wie es sein muß, dort abends zu gehen, wenn das Meer blau und kühl herweht und von den Steinen die Wärme des Tages atmend ausstrahlt, dort zu gehen mit … Aber die Post will sortiert werden, weiter, weiter. Da ist ein Brief aus Paris. Sie weiß sofort, von der Tochter des … , der man allerhand Ungutes nacherzählt. Mit einem reichen Petroleumjuden hat sie ein Verhältnis gehabt, dann war sie Eintänzerin irgendwo und Ärgeres vielleicht, jetzt soll sie wieder jemand haben; tatsächlich, der Brief ist aus dem Hotel Maurice, vornehmstes Briefpapier. Zornig wirft ihn Christine zur Seite. Dann kommen die Drucksachen. Ein paar behält sie zurück, die für die Gräfin Gütersheim bestimmt sind. ›Die Dame‹, ›Die elegante Welt‹, und die andern Modezeitschriften mit Bildern – es macht nichts, wenn die Frau Gräfin sie erst mit der Nachmittagspost bekommt. Wenn es still wird im Dienstraum, so holt sie diese Zeitschriften aus dem Umschlag und blättert sie auf, sie sieht sich die Kleider an, die Bilder der Filmdarsteller und Aristokraten, die wohlgepflegten Landhäuser englischer Lords, Autos berühmter Künstler. Wie ein Parfüm spürt sie das in die Nüstern eindringen, sie erinnert sich an alle die Gestalten, neugierig sieht sie die Frauen in ihren Abendkleidern an und 120
zurück zum  Buch Rausch der Verwandlung"
Rausch der Verwandlung
Titel
Rausch der Verwandlung
Autor
Stefan Zweig
Datum
1982
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
204
Kategorien
Weiteres Belletristik
Web-Books
Bibliothek
Datenschutz
Impressum
Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Rausch der Verwandlung