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Manche der biographischen Funktionsweisen sind über die Jahrhunderte
gleich geblieben. Einfühlung und Identifikationmit dem dargestellten Objekt
können zwar noch immer alsMovensbetrachtetwerden, Biographien zu lesen
und zu schreiben, sie generieren aber kein so wesentliches Gattungsmerkmal
mehrwienoch im18.und19. Jahrhundert.
ImPrinziphandelnbiographischeUntersuchungen,die eine fachlicheNähe
zurLiteraturwissenschaftaufweisen–undauch jene,diesichkollektiv-oderan-
tibiographischnennen–, vomBezug eines odermehrererObjekte zurWelt. Das
beschreibendeSubjekt (alsBiograph),diebeschriebenenLebenundeineInterak-
tionsfläche(geopolitischeodergeschichtlicheHintergründebeziehungsweiseder
sozialeRaum)ergebeneinemiteinander inVerbindunggesetzteTriasoder–me-
taphorisch ausgedrückt – ein in Position undWertung austauschbares Tripty-
chon.Damit istgemeint,dassStellung,PerspektiveundthematischeGewichtung
unterschiedlich konzipiert sein können.Mal ist es der historische oder struktu-
relle Rahmen, dannwieder der Bezug des Biographen zum erforschten Objekt
oder auch das Material und die (digitalen) Darstellungsmöglichkeiten, die im
Zentrum der Betrachtung stehen. Ein konstanter Kristallisationspunkt bleibt
dabei die direkt oder indirekt verhandelte Biographiewürdigkeit, die nachhaltig
vonThomasCarlyles (1795–1881)undJacobBurckhardts (1818–1897)problemati-
schemVerständnisvonHeldentumundhistorischerGrößegeprägtwordenist.
Die meisten Biographien stellen die Legitimation ihres Untersuchungsob-
jektsnichtweiter infrage; andererseits kanneinedie kulturell geprägteAuffas-
sung vonGröße unterlaufendeHerangehensweise gerade Forschungsinteresse
erzeugen, zum Beispiel in mikrogeschichtlichen oder soziologischen bezie-
hungsweise in feministischenoderpostkolonialenStudien.
Grundlegend für die Auswahl bleibt in negativer wie positiver Auffassung
das Außergewöhnliche und Untypische einerseits sowie das Alltägliche und
Typische andererseits.94 Zwischen diesen beiden Perspektiven steht Richard
Schaukal. Der umfangreiche Nachlass, die Tatsache, dass die ihn betreffenden
Dokumentearchiviertwurden,diespezifischenKontakte, seinezahlreichendich-
terischen und essayistischenPublikationen unddie breite Rezeption zu Lebzei-
ten begünstigen Schaukals Biographiewürdigkeit. Doch imGegensatz zu vielen
dichtenden Zeitgenossen ist er am Rande der Literaturgeschichte angesiedelt,
keineswegs kanonisiert undder überwiegende Teil seiner Briefwechsel unveröf-
fentlicht. Schaukal gehört jedochauchnicht zudengänzlichunbekannten, ver-
gessenen ‚infamenMenschen‘, deren Schicksale Carlo Ginzburg, Natalie Zemon
94 Vgl.HannesSchweiger: ‚Biographiewürdigkeit‘. In:HandbuchBiographie,S.32–36.
1 Biographie:GattungundTheorieamBeispielRichardSchaukals 23
Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Titel
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Autor
- Cornelius Mitterer
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 312
- Kategorien
- Weiteres Belletristik