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auchaufSchaukalskritischeSchriftenzu.Allerdingshandelt es sichbeiKanon
undTraditionumkomplementäreKategorien.Nachwie vor orientiert sich das
interessierte Leseklientel an der Selektion von Kritikerautoritäten. Auchwenn
aktuelleKanonlistenzeitgenössischeWerkeeinbeziehen, spieltdieVerbindung
vonTraditionundKanon eine grundlegendeRolle für die Etablierungdes kul-
turellen Gedächtnisses und für die Erzeugung von Kohärenz. Nach Assmann
liegt die Bedeutung von Kanons in der stabilisierenden Festlegung auf Texte,
die im Fluss der Tradition schriftlich geprägter Gesellschaften verloren zu
gehen drohen und als Gemeinschaftsstabilisatoren dem Vergessen entrissen
werden.115 Nationale Identifikatoren, auch aus demBereich der Literatur, ste-
hen ineinem ‚grenzenlosenEuropa‘hoch imKurs.
Kanons erfüllen für die jeweilige Gegenwart, von der aus sie konstituiert
werden, und für dieAgenten einer bestimmten literarischenAusrichtung Zwe-
cke, die über die Festlegung auf ästhetischeVorbilder hinausgehen. Diese be-
stehen laut Robert Charlier, der damit indirekt auch auf Assmann rekurriert,
einerseits inder „Selbst- undFremdvergewisserungvonSprach-undKulturge-
meinschaften“. Andererseits könnten Kanondebatten bestehende Traditionen
hinterfragenundsomitalsReflexeaufkulturelleKrisengewertetwerden.116
In jedemFallgehtdieKonstituierungvonKanonsmitMachtausübungkon-
form,wie sich nicht nur auf dem literarischenMarkt, sondern auch in sprach-
politischer Hinsicht zeigt, wenn etwa Dialekte dem Standard weichen und
Minderheitensprachenkulturell homogenisiert undzumVerschwindengebracht
werden.117 Im18. JahrhundertwarendieKontroversendarüber,welcheVariante
desDeutschensichals Schriftsprachedurchsetzen solle, engmitderFragenach
der ‚mustergültigen‘SprachverwendungunddemmoralischenGehalt in literari-
schenTextenverbunden. Im Italiendes 16. Jahrhunderts beeinflusste derRück-
griff auf die Sprache in den Werken der tre corone (Dante, 1265–1321,
Boccaccio, 1313–1375undPetrarca, 1304–1374)diequestionedella lingua, also
dieFragenachderFestlegungeinerVariantedes ItalienischenalsSchriftspra-
che, zugunstendes Toskanischen.Der Rückbezug auf die dreiDichter des 13.
115 Vgl. Ralf Zschachlitz: „Kanonische Stillstellung“, „Symbolisches Kapital“, „Dialektik im
Stillstand“ – zur Kanontheorie bei Jan Assmann, Pierre Bourdieu undWalter Benjamin. In:
Kanon heute. Literaturwissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven. Hg. von Christof
HamannundMichaelHofmann.Baltmannsweiler 2009,S. 13–28,hierS. 15–16.
116 Robert Charlier: Klassikermacher. Goethes. Berliner ‚Agenten‘der literarischenKanonbil-
dung. In:Kanonbildung,S.51–69,hierS. 51–52.
117 Vgl.MichaelHofmann: Für einen offenenKanon.Überlegungen imAnschluss andie ak-
tuelleKanon-Diskussion. In:Kanonheute,S. 29–42,hierS.31.
1 Biographie:GattungundTheorieamBeispielRichardSchaukals 31
Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Titel
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Autor
- Cornelius Mitterer
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 312
- Kategorien
- Weiteres Belletristik