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tief, längst in fremden Händen, da ich es mir zeigen ließ, auf der Höhe des
Krautmarkts.“30
Die rückwärtsgewandteSentimentalität ist inSchaukalsBüchernaußerdem
voneinerGestederMelancholiegetragen,dieFreudeheralsTrauerbezeichnen
würde. In „Trauer undMelancholie“ (1917) unterteilt der Psychoanalytiker die
beidenBegriffe in einen „Normaleffekt“ (Trauer) und seine „psychogene“Aus-
differenzierung(Melancholie).
Die Zusammenstellung vonMelancholie und Trauer erscheint durch dasGesamtbild der
beidenZuständegerechtfertigt.AuchdieAnlässezubeidenausdenLebenseinwirkungen
fallendort,wosieüberhauptdurchsichtig sind, zusammen.Trauer ist regelmäßigdieRe-
aktionaufdenVerlust einergeliebtenPersonodereineran ihreStellegerücktenAbstrak-
tionwieVaterland,Freiheit, ein Idealusw.UnterdennämlichenEinwirkungenzeigt sich
beimanchenPersonen, diewir darumunter denVerdacht einer krankhaftenDisposition
setzen,anStellederTrauereineMelancholie.31
Schaukal reagierteaufdenVerlust seinerverklärtenHeimatmitTrauerundbis-
weilen auch mit polemischer Wut. Weil Trauer nicht die poetische Wirkung
und ihrenkalkuliertenGestusumfasst,derSchaukals literarischeAuseinander-
setzungmitdemVerlust seines ‚Vaterlands‘betrifft, könnte seineRetrophilie–
in Anlehnung an Freud – als poetischeMelancholie bezeichnet werden, eine
öffentlich verarbeitete wie selbstkonstitutiv wirkende Trauerarbeit. Freud ver-
steht unter Melancholie die krankhafte Verstimmung, die zur „Herabsetzung
desSelbstgefühls“ führt.32SchaukalspoetischeMelancholiedrücktesichhinge-
gen–undandersalsFreudesanunterMelancholie leidendenPatientennach-
weist– inFormvonVorwürfenundSchmähungengegendiePersonenaus,die
er für denVerlust desObjekts seiner Sehnsucht verantwortlichmachte. In der
editorischenVorbemerkungzu„TrauerundMelancholie“weisendieHerausge-
ber der Freud’schen Studienausgabedarauf hin, dass Freuds zentrale Erkennt-
nis in der „Darstellung des Vorgangs [liege], wie eine Objektbesetzung in der
Melancholiedurcheine Identifizierungersetztwird.“33Die Identifizierung, also
dieGleichsetzungmitdementschwundenenObjekt,diezuAutoaggressionund
Melancholie führt, ist bei Schaukal zum Teil gegeben. Seine Objektbesetzung
führte nachdemVerlust jedochnicht nachweislich zuSelbsthass, sondern zur
30 Schaukal:BeiträgezueinerSelbstdarstellung,S.5.
31 Sigmund Freud: Trauer undMelancholie. In: Freud: Studienausgabe. Bd. 3: Psychologie
des Unbewußten. Hg. von Alexander Mitscherlich u.a. Frankfurt amMain 1975, S. 197–212,
hierS. 197.
32 Freud:TrauerundMelancholie,S. 198.
33 Freud:TrauerundMelancholie,S. 196.
60 I PoseundSubjektivierung imLebenRichardSchaukals
Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Titel
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Autor
- Cornelius Mitterer
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 312
- Kategorien
- Weiteres Belletristik