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DassSchaukalmit demBegriff Biographieweniganfangenkonnteunddass
diese Ablehnung des Gattungsbegriffs auch eine antibürgerliche Spitze enthält,
legtder ironischeKurztextmitdemTitel„Biographie“ (1902)nahe. Ineinemein-
zigen langenSatzwirddasLebeneinesanonymenWürdenträgersausZeitendes
LiberalismusvonderWiege(wobeiSchaukaldieGeburtmitdemBeginnderpoli-
tischen Laufbahn gleichsetzt) bis zur Bahre geschildert, der öffentlichenBeiset-
zung unter großem Andrang. Mit der extremen Raffung der erzählten Zeit
karikiert Schaukal die existentielle Sinnlosigkeit linearer Lebensläufe und die
Biographie-Maniedesbürgerlichen19. Jahrhunderts:
DerneugewählteVertretereinesgroßenWahlbezirksverkündete ineinerzahlreichbesuch-
tenVersammlungseinerAnhänger seineZieleundsogenanntenÜberzeugungen, ließ sich
desAbends bei einemumfänglichenFestessen von angetrunkenenTischgenossen lebhaft
feiern, saß inderMittederVolksabgeordnetenmehrere Jahrehindurchschweigendundan
seinemPulteschnitzelnd,erhielt,daseineFabriksunternehmungeinenunerwartetgewalti-
genAufschwunggenommenhatte,einenhohenOrden,wurdeendlichgeadelt–wasspäter
denErfolghatte, daß seinmäßig begabter Sohn imAusland einengroßenStaat vertrat–,
starbundwurdevonTausendenMenschenaufdenFriedhof geleitet und inspaltenlangen
Aufsätzen vieler öffentlicher Blätter für einige Stunden müßiger Menschen hin und her
besprochen.107
Richard Schaukals biographisches Schaffen ist– zusammengefasst– von zwei
Aspekten getragen, die ideologisch und methodisch miteinander verbunden
sind und in Bezug zu seiner antibürgerlichen, geistesaristokratischenHaltung
stehen:Erstens rekurriert er inseinenLebensbeschreibungenaufeineFormder
Biographik, die dem politisch-nationalen Geschichtsverständnis des 19. Jahr-
hundertsverpflichtet ist; zweitenssindseinebiographischenSchriftenreflexive
Selbstverortungen inderTraditioneiner impressionistischenKritik.
107 Vgl.Schaukal:VonTodzuTod:Biographie. In:WE.Bd.2:UmdieJahrhundertwende.Mün-
chen/Wien1965,S.206.
80 I PoseundSubjektivierung imLebenRichardSchaukals
Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Titel
- Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne
- Autor
- Cornelius Mitterer
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Ort
- Berlin
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-061823-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 312
- Kategorien
- Weiteres Belletristik