Seite - 13 - in Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
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Einleitende Überlegungen 13
politischen Semantik der Ersten Republik waren jedenfalls Begriffe wie „Räte-
system“, „Revolution“ oder „Diktatur des Proletariats“ – Schlüsselbegriffe der
russisch-sowjetischen Oktoberrevolution – bis in das Jahr 1920 hinein hoch-
aktuell und keineswegs ausschließlich von der kommunistischen Publizistik
besetzt. Das belegen für 1919 mehrere Leitartikel und die breite Berichterstat-
tung zu den Reichskonferenzen der Arbeiterräte in der Arbeiter-Zeitung, aber
auch im (als liberal-kapitalistisch geltenden) Neuen Wiener Tagblatt und selbst
in der Christlichsozialen Arbeiter-Zeitung, dort jedoch mit akzentuierter Pole-
mik gegen die Institution der Arbeiterräte, die unter anderen als „Verbrechen an
der Demokratie“ […] und als „Ende der geistigen und wirtschaftlichen Kultur“
denunziert wurden.8 Die Rote Fahne konnte zunächst nur mit Sektionsberichten,
Nachrichten aus Deutschland und einem einzigen Grundsatzbeitrag („Kommu-
nistische und sozialdemokratische Diktatur“, August 1919) dagegenhalten.9
Auch in der Bewertung von Lenin, um einen weiteren Aspekt anzuspre-
chen, zeigen zum Beispiel die Nachrufe auf seinen Tod eine erstaunliche Band-
breite. Namhafte Exponenten der österreichischen Sozialdemokratie wie etwa
Otto Bauer würdigten zur Überraschung mancher LeserInnen Lenins „histo-
rische Größe“, während andere Stimmen eher die tagespolitischen Deutungs-
muster (‚Spalter‘ der Arbeiterklasse, Diktator und andere mehr) übernahmen.
Daraus ergab sich in der Folge für einen Schriftsteller und Kritiker wie Ernst
Fischer ein anregender Gestaltungsraum, auf den Jürgen Egyptien ausdrück-
lich hinweist.10 Auch im Nachhall zur Revolutionserinnerung an 1917/18 legten
8 Vgl. Max Adler: Probleme der sozialen Revolution. Die Eigenart des Rätesystems.
In:
Arbeiter-Zeitung [fortan:
AZ] (1.5.1919), S.
9f.; N.N.:
Reichskonferenz der Arbei-
terräte. In:
AZ (1.7.1919), S.
2–5; vgl. auch den Leitartikel Die Proklamierung der bayri-
schen Räterepublik einschließlich des Aufrufes des Zentralrats mit dezidierten Spitzen
gegen die SPD in:
AZ (7.4.1919), S.
1.; N.N.:
Demokratie oder Dikatur? In:
Christlich-
soziale Arbeiter Zeitung (5.7.1919), S. 1f.
9 N.N.: Kommunistische und sozialdemokratische Diktatur. In: Die Rote Fahne
(20.8.1919), S. 1f. Breit war neben der Berichterstattung im Neuen Wiener Tagblatt
(N.N.: Die Reichskonferenz der Arbeiterräte. In: Neues Wiener Tagblatt (1.7.1919),
S.
6f.) auch jene im Neuen Wiener Journal (N.N.:
Die Abfertigung der Kommunisten.
In: Neues Wiener Journal (3.7.1919), S. 1f.).
10 Vgl. N.N. [verm. Otto Bauer]:
Wladimir Iljitsch Lenin. In:
AZ (23.1.1924), S.
1f., ten-
denziöser dagegen der Grazer Arbeiterwille (23.1.1924, S.
1–3) oder das Linzer Tagblatt
(24.1.1923, S. 1 unter dem Titel „Der Tod des Diktators“), während die Neue Freie
Presse bei aller Würdigung einzelner Leistungen Lenins, des „roten Zaren“, von dessen
Tod die Überwindung der Politik erhofft, „deren Seele Lenin gewesen ist“ (N.N.:
Der
Tod Lenins. In: Neue Freie Presse (23.1.1924), S. 1f.).
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur