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Julia
Köstenberger44
Kommentator der christlich-konservativen Tageszeitung Reichspost, Rudolf
Holzer, empfand sie gar als „Versündigung an der quellreinen, ursprünglichen
Ergießung des Mozartschen Genies“.53 Insgesamt stimmten die anderen, eher
konventionellen Darbietungen der sowjetischen Nachwuchskünstler die tradi-
tionsverhafteten Kritiker versöhnlicher, auch der Publikumserfolg stellte sich
zuletzt ein. Ohnedies begeistert zeigten sich die Anhänger des „Russischen Thea-
ters“, darunter Paul Stefan, ein Mitarbeiter der UE, der in den Musikblättern des
Anbruch resümierte:
„Das Außerordentliche aller russischen Kunstübung wurde
in einem Milieu, in dem so viel von Tradition die Rede ist, mit elementarer
Macht demonstriert. Und es kam zu seiner Geltung.“54
Der nächste Höhepunkt war die Reise Stefan Zweigs nach Moskau Mitte Sep-
tember 1928.55 Auf „Einladung“ der VOKS nahm der Schriftsteller an den Feier-
lichkeiten anlässlich des 100. Geburtstages Lev Tolstojs teil, obwohl er die Kosten
dafür selbst tragen musste. Als Tolstoj-Kenner meinte Zweig eine „objektive“,
das heißt unpolitische, Gelegenheit ergreifen zu können, um Russland kennen-
zulernen.56 Selbstverständlich nützte die sowjetische Propaganda den Besuch des
prominenten Österreichers: Trotz gegenteiliger Vorsätze exponierte sich Zweig,
saß bei der Festveranstaltung im Bolschoj Theater als der bekannteste ausländi-
sche Gast im Präsidium und hielt auf Deutsch eine spontane Rede über den Ein-
fluss Tolstojs auf Europa.57 Die Pravda drehte Zweig im „Zitat“ buchstäblich das
Wort im Mund um:
„Nun, nach der Revolution, blickt man […] auf die russische
Sprache und auf die russische Kultur als eine Quelle von Schätzen, welche die
europäische Kultur wiederbeleben und erneuern werden. Einer dieser Schätze
stellt Lev Tolstoj dar.“58
Doch Zweig erfüllte die in ihn gesetzten Hoffnungen als repräsentabler und
„objektiver“ Russlandreisender auch ganz von selbst: Nach seinem einwöchigen
53 R.H. [d.i. Rudolf Holzer]: Salzburger Festspiele. Gastspiel des Leningrader Opern-
studios. In: Reichspost (7.8.1928), S. 8.
54 Paul Stefan: Anlässe im Sommer. In: ANB, H. 7/1928, S. 244.
55 Siehe dazu detailliert: Köstenberger, „Ich bin glücklich …“, S. 261–275.
56 Vgl. Zweig an Rolland (4.9.1928). In: Romain Rolland/Stefan Zweig: Briefwechsel
1910–1940. 2. Bd. Berlin: Rütten & Loenig 1987, S. 295f.; Stefan Zweig: Die Welt von
Gestern, Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1996,
S. 373f.
57 Vgl. Zweig an Friderike Zweig (Moskau, 11.9.1928). In: Stefan Zweig/Friderike
Zweig:
„Wenn einen Augenblick die Wolken weichen“. Briefwechsel 1912–1942. Hrsg.
von Jeffrey B.
Berlin und Gert Kerschbaumer. Frankfurt a.M.:
S. Fischer 2006, S.
212.
58 N.N.:
Stoletie so dnja roždenija L.N. Tolstogo. Večer pamjati Tolstogo v Bol'šom teatre.
In: Pravda (12.9.1928), S. 5 [Übersetzung J.K.].
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur