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Die neuen „Russophilen“ und ihr Russlanddiskurs 53
Dieses emphatische Bekenntnis Doderers zu Russland, das heißt zu seinen
russischen Erfahrungen, hat bekanntlich nachhaltige Spuren in seinem späteren
Werk hinterlassen. Über das Land schreibt und urteilt er, zumindest bis Ende der
1930er Jahre, mit auffallender Sympathie, im Besonderen in seinem Aufsatz Die
neuen Russophilen:
[W] er zurückkommt und man hört ihn reden, der flucht das Blaue vom Himmel
herunter über die „Regierung“ drüben, über die Falottenwirtschaft in allen Ämtern
und erzählt immer die unglaublichsten Geschichten – und nach einer Viertelstunde
schwärmt er schon von den Russen im allgemeinen, nennt sie ein edles, herrliches Volk
und es stellt sich heraus, daß dieses Land, dieses Volk in seinem Herzen feste, unverlier-
bare Stätten der Liebe haben: die Augen leuchten ihm ja, man könnte fast glauben, der
Mann sehnt sich zurück.
Und es ist mitunter fast so bei diesen ehemaligen „Woyennoplenni“. […] Sie haben die
Weite eines Riesenlandes kennen gelernt und die Weite des russischen Herzens, das in
Wahrheit den Charakter des Landes widerspiegelt […]. Sie haben den heiligen „Nit-
schewo“ kennen gelernt, der die Mischung von Herzensgröße, unverbesserlicher Passi-
vität, Verträumtheit und Tiefe verkörpert.9
In seinem ersten gedruckten Prosatext Das russische Land wird über die Wande-
rung einer Gruppe von acht deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen
berichtet, die durch die unermesslichen Ebenen Richtung Europa marschieren.
Doderer charakterisiert Russland und seine Bewohner sowie seine Landschaft
dabei durchaus positiv:
Hier soll von einem Lande ein weniges erzählt werden; von seiner Eigenart – dem
Angesicht seiner Landschaft und von seinen Bewohnern, von dem großen russischen
Bauernvolk, dessen Herz weit und offen ist wie die Steppe, von der Gastfreundlichkeit
und alles in allem vom Wandern durch die über alle Begriffe unermesslich große Ebene
von Westsibirien.10
Doderers Ausführungen knüpfen deutlich an das schon zur Jahrhundertwende
dominante Muster der Russlanddarstellung an, wie es zum Beispiel bei Rainer
M.
Rilke etabliert erscheint, nämlich an die Glorifizierung der „russischen Seele“
und des russischen Bauern.11 Mit Jürgen Lehmann fügt sich dieses Muster in
9 Heimito von Doderer: Die neuen Russophilen. In: Wiener Allgemeine Zeitung
(25.6.1921), S. 5.
10 Zit. in: Schmidt-Dengler, Doderers schriftliche Anfänge, S.
103.
11 Vgl. dazu:
Konstantin Asadowski:
Rilke und Rußland:
Briefe, Tagebücher, Erinnerun-
gen, Gedichte. Frankfurt a.M.: Insel 1986; Jürgen Lehmann: Rußland. In: Manfred
Engel (Hg.):
Rilke-Handbuch. Leben
– Werk
– Wirkung. Stuttgart–Weimar: Metzler
2004. S. 98–112; Alexander W. Belobratow: „Gott (wohne) in der Achselhöhle …“.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur