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Alexander W.
Belobratow54
gängige zeitgenössische, kulturkritisch-pessimistische, aber auch alternative
habituelle Gemengelagen: Es
werden gegen Ende des Jahrhunderts solche Stimmen vernehmbar, die – kulturkri-
tisch und geschichtsphilosophisch argumentierend – dem von Dekadenz und Verfall
bedrohten Westeuropa ein als ursprünglich, naiv und vital gezeichnetes Russland als
Verheißung einer neuen Kultur, als Garant einer geistigen, seelischen und künstleri-
schen Erneuerung gegenüberstellen. Eine solche auch die Sicht auf die russische Litera-
tur beeinflussende Einschätzung prägt auch eine u. a. von Philosophen, Intellektuellen
und Künstlern wie Friedrich Nietzsche, Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke
vertretene Bewertung, in deren Rahmen Russland als „verheißenes Land“, seine Bewoh-
ner als Inkarnationen einer mit Begriffen wie „geistliche Tiefe“, „Unmittelbarkeit der
Welterfahrung“, „innere Widersprüchlichkeit“, „Demut“, „Passivität“, „Leidensfähig-
keit“ etc. umkreisten, aber letztlich rational nicht bestimmbaren „russischen Seele“
gesehen werden.12
Doderers Bekenntnisse zum „russischen Menschen“ verweisen bereits auf die
späteren von Stefan Zweig aus dem Jahre 1928, als dieser aus Anlass des Tolstoj-
Jubiläums in Moskau weilte und in seinen Reiseaufzeichnungen festhielt, dass er
„Rußland erleben“ wolle, und zwar „nicht das bolschewistische, nicht das von
einst und das von heute, sondern des ewigen Volkes weite, starke und dunkle
Seele“.13 Malgorzata Świderska bemerkt in ihrem Buch bezüglich Das russische
Land von Doderer: „[D] iese Charakterisierung Russlands und der Russen [ent-
spricht] den westlichen klimatheoretischen Vorstellungen und Stereotypen, u.a.
über die weite ‚russische Seele‘, die auch in Dostojevskijs Romanen als ein russi-
sches Selbstbild zu finden ist“.14
Einige Jahre später, im September 1925, notiert Doderer in seinem Tagebuch:
Damit komme ich auf Russland, das ich ˂innig˃ liebe. – Ich weiß nicht wie es jetzt mit
˂meinen˃ den russischen Brüdern steht, ich weiß nicht, welche Gefechtslage sie jetzt
dort drüben haben; denn es ist schon fünf Jahre her, seit ich wieder hier in Europa lebe
und was ich damals noch zuletzt sah, das gilt heute gewiss nicht mehr. […] Ich sage
Zur Bedeutung von Rilkes Rußlanderlebnis. In: Norbert Fischer (Hg.): ‚Gott‘ in der
Dichtung Rainer Maria Rilkes. Hamburg: Felix Meiner 2014, S. 161–174.
12 Jürgen Lehmann:
Russische Literatur in Deutschland. Ihre Rezeption durch deutsch-
sprachige Schriftsteller und Kritiker vom 18.
Jahrhundert bis in die Gegenwart. Stutt-
gart: Metzler 2016, S. 61f.
13 Stefan Zweig: Auf Reisen. Feuilletons und Berichte. Frankfurt a.M.: Fischer 1987,
S. 360.
14 Malgorzata Świderska:
Theorie und Methode einer literaturwissenschaftlichen Imago-
logie, dargestellt am Beispiel Russlands im literarischen Werk Heimito von Doderers.
Frankfurt a.M.: Peter Lang 2014, S. 116.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur