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Alexander W.
Belobratow60
etwas zu repräsentieren suchen“.32 Vor diesem Hintergrund wird verständlich,
wenn er in sein russisches Reisetagebuch am 27.9.1926 notiert:
Der Mensch wird zum bewußten Kollektivismus erzogen. Man sagt ihm aber nicht, daß
außerdem noch eine Weisheit Platz hat, eine Weltanschauung nicht von einem Punkt
aus aufgebaut wird, sondern von vielen tausenden, daß man nicht stehend das Leben
begreift, sondern wandernd, immer wieder stehen bleibend.33
3 R. Müllers Russland-Essay
In die Zeit um 1920 fallen auch mehrere Ausführungen zu Russland und zum
Bolschewismus von Robert Müller, der das Russland-Thema am intensivsten in
seinen Essays ab etwa 1915 umreißt. Für den Zeitraum von 1915 bis 1924 hat er
nicht weniger als 15 Zeitungsbeiträge vorgelegt, die um Russland kreisen, dazu
auch den 1920 auch als Buch erschienenen umfangreichen Essay Bolschewik und
Gentleman.
Müllers erste Hinwendung zum russischen Thema fällt in das erste Kriegsjahr,
als er im Januarheft der Zeitschrift Der Merker 1915 einen Essay mit dem Titel
Russischer Volksimperialismus publiziert. Im gleichen Heft ist auch der anti-rus-
sische, ja geradezu chauvinistische Aufsatz von Albert Ehrenstein Der Politiker
Dostojewski erschienen, in dem Ehrenstein unter anderem bekennt, dass er „nie
an das Christentum von D. geglaubt“ habe, und den russischen Romancier als
den „slawophilen Houlligan“ bezeichnet.34 Bei Müller sind dagegen ganz andere
Einschätzungen präsent:
Man kann Rußland nur bewundern. Es ist von einem mächtigen Gemüte, von einer
allgemeinen menschlichen Sittlichkeit erfüllt, die nur durch den humanen Maßstab des
europäischen Liberalismus nicht erfaßt werden kann. Bei all der Grausamkeit und Ver-
wirrung, die der russischen Seele anhaftet, steht der Russe als Mensch und Kulturtyp
höher als der moderne schlenkrige Franzose, dessen Wesen seit hundert Jahren eine
immer stärker werdende Verflachung und Entrassung aufweist […] Die Maßlosigkeit
der russischen Seele […] hat im seelischen Leben dieses Volkes ungeheure sittliche
Werte geschaffen.35
32 Joseph Roth: Reise in Rußland. In: ders.: Werke. Bd. 2: Das journalistische Werk
1924–1928. Hg. v. Klaus Westermann. Frankfurt a.M.:
Büchergilde Gutenberg 1991,
S. 591–709, zit. S. 675. Dieser Gedanke hat bekanntlich in der deutschsprachigen
Literatur eine lange Tradition, von Hölderlin bis Musil und Broch.
33 Joseph Roth: Tagebuch-Eintragungen. In: ders., Werke 2, S. 1010.
34 Albert Ehrenstein: Der Politiker Dostojewski. In. Der Merker, H. 1/1915, S. 736f.
35 Robert Müller:
Russischer Volksimperialismus. In:
ders.:
Kritische Schriften I. Pader-
born: Igel 1995, S. 193–195, zit. S. 194.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur