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Die neuen „Russophilen“ und ihr Russlanddiskurs 61
Und er fügt dem die Erklärung hinzu, die eigentlich einer Wiederholung des
gängigen Klischees gleichkommt: „Die Maßlosigkeit der russischen Seele […]
hat im seelischen Leben dieses Volkes ungeheure sittliche Werte geschaffen“.36
Müller schließt sich somit der seit der Jahrhundertwende in Westeuropa gän-
gigen Vorstellung von der „russischen Seele“ an. Der Übergang in der Auffas-
sung von Russland als einem antichristlich „Fremden“ zum christlich „Eigenen“
findet Ende des 19.
Jahrhunderts sowohl in Deutschland als auch in Frankreich,
etwa vermittels Melchior Vogues Buch Der russische Roman von 1886, und in
England statt. Die Mythologisierung des „russischen Glaubens“ ist deutlich mit
der Rezeption von Fёdor Dostoevskij und Lev Tolstojs Romanen verbunden.
Gemäß diesen Überlegungen gehe es in Russland nicht um Ungebildetheit und
dunkle Philosophie, sondern um eine Form von Ur-Grund, der Toleranz, Güte,
Menschenliebe gebäre.
Im Essay Bernhard Shaws Völkerreich, publiziert in den von Müller im Auf-
trag des Kriegspressequartiers geleiteten Belgrader Nachrichten vom 6.5.1916,
wiederholt er die Topoi seines Russlandbildes, indem er das Deutsche dem Sla-
wischen näherbringt – in krasser Gegenüberstellung zum Westeuropäischen:
Würde die Politik nach einem Gesetz der inneren Anlage gemacht, so könnte gegen-
über der Shawschen Zusammenstellung geltend gemacht werden, daß neben der west-
lichen Zivilisation die russische Kultur der Seele, die ethische Tiefe eines Dostojewsky
und Tolstoi, die Menschlichkeit eines Gorky es ist, die den deutschen, nicht nur den
slawischen Sinn von Mitteleuropa stärker fesseln, als die mehr an der Oberfläche der
menschlichen Möglichkeit liegenden Probleme des Westeuropäers.37
Diese mythologischen Russlandbilder und Konstruktionen der „russischen
Seele“ haften Müllers Russland-Auffassungen und seinen Reaktionen auf den
russischen Bolschewismus auch nach 1917 an. Im Essay Friedensersatz, erschie-
nen in der Österreichisch-Ungarischen Finanzpresse am 16.2.1918, wird die „neue
Diplomathie“ [sic] der Bolschewiki folgendermaßen begrüßt, wenn nicht beju-
belt:
Trocky hat ein vollständig neues Diplomatenmittel erfunden: den Abbruch der krie-
gerischen Beziehungen. Er hat den Frieden einfach erklärt. Was früher ein Wortwitz
war, ist jetzt Taternst geworden. Das ist ein ungeheuerliches Novum, etwas noch nie
Dagewesenes und leuchtet tief in die Seele Trockys und des russischen Bolschewismus
hinein. Des russischen Bolschewismus; denn diese Züge sind echt russisch. Sie erin-
nern an den Menschen aus den Büchern Dostojewskys, Tolstois und Gorkis, an diese
36 Ebd.
37 Ders.: Bernhard Shaws Völkerreich. In: ebd., S.
219–221, zit. S. 221.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur