Seite - 68 - in Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Bild der Seite - 68 -
Text der Seite - 68 -
Primus-Heinz
Kucher68
versucht der Text am Schluss durch den Akt der Selbst-Opferung in eine kathar-
tisch wirkende Oh-Mensch-Rettung auszuklingen. Dabei tritt nach ihrem Frei-
tod in einem Irrenhaus der ermordete Ilja in die abschließende Lebensbeichte
ein. Die in den Aufführungen kontrovers wahrgenommene revolutionäre
Fahnen-Symbolik wird im Text selbst nur in einer knappen Regieanweisung
angesprochen, nämlich als Wladimir als Befreier gefeiert und von Soldaten
erschossen wird.10
Es muss hier daran erinnert werden, dass Tanja keineswegs das einzige Stück
(gewesen) ist, das 1919/20 auf einer Wiener Bühne die Russland- und die Revo-
lutionsthematik aufgegriffen hat. Bereits im Juni 1919 wurde in der Volksbühne
Der Revolutionär von Wilhelm Speyer aufgeführt, das zwar nicht die Revolu-
tion von 1917 primär thematisiert, sondern vielmehr revolutionäre Strömun-
gen im zaristischen Russland, also deren Vorgeschichte, sowie unterschiedliche
Vorstellungen revolutionären Agierens unter Emigranten. Im November 1920
ist das Stück auch in Linz mit bedeutend größerem Erfolg als in Wien aufge-
führt worden.11 Trotz zurückhaltender Kritiken in den meisten Blättern war es
für einzelne, zum Beispiel für das Interessante Blatt, „das wertvollste Stück der
diesjährigen Spielzeit“, gleichzeitig zu Eisik Scheftel, einem Arbeiterdrama des
russisch-jiddischen Schriftstellers David Pinski, der bis 1922 in Wien wiederholt
gespielt wurde.12
10 Vgl. Weiß, Tanja, S.
81:
„Wladimir hat uns befreit, Wladimir, unser aller guter Bruder,
der gute Mensch, durch seine Güte hat er die ganze Welt entflammt! Begnadigt ist
der Mensch, Wladimir sei unser Zar!“
11 Vgl. Wolfgang Storch:
Spiegel oder Gemälde mit Silberrahmen. Zu Wilhelm Speyers
frühen Stücken. Er kann nicht befehlen und Der Revolutionär. In:
Helga Karrenbrock/
Walter Fähnders (Hgg.):
Wilhelm Speyer (1887–1952). Zehn Beiträge zu seiner Wie-
derentdeckung. Bielefeld:
Aisthesis 2009, S.
17–36, zu Der Revolutionär bs. S.
30–35.
Storch spricht von drei Aufführungen in Berlin, Hamburg und München (wo auch
Thomas Mann im Publikum saß); d.h. die beiden österreichischen Aufführungen
sind ihm entgangen. Die Druckfassung des Dramas, für Storch ein „Kammerspiel,
ausgetragen zwischen einem deutschen Geschwisterpaar und zwei russischen Revo-
lutionären“ (ebd., S. 31, n.b. eine davon, Lydia, weiblichen Geschlechts), erschien
ebenfalls 1919 bei Kurt Wolff.
12 Vgl. dazu die kurze Aufführungskritik von m.n [d.i. vermutl. Mizzi Neumann]
in:
Wiener Salonblatt (7.6.1919), S.
11, sowie in:
Interessantes Blatt (5.6.1919), S.
13.
Das Stück wurde vom 18.–21.11.1920 am Linzer Landestheater unter der Leitung von
Karl Farkas wieder aufgeführt; vgl. die Besprechung: N.N.: [o.T.]. In: Linzer Tages-
Post (19.11.1920), S.
5f. Zu Pinski und seinem bereits 1899 verfassten Drama vgl. die
hymnische Besprechung:
Josef Luitpold Stern:
Eine Tragödie der Arbeit. In:
Arbeiter-
Zeitung (27.4.1919), S. 9f.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur