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Russlandbilder bei Weiß, Musil, Lania und Rundt 69
Weit stärkere Präsenz als die Revolutionsthematik hatte im Theaterbetrieb
seit Ende des Krieges jedoch ein Autor, der neben Tschechow die klassische
Moderne mitverkörperte, nämlich Lev Tolstoj. Insbesondere sein Stück Der
lebende Leichnam findet sich mehrmals im Repertoire aller bedeutenden Bühnen
Wiens bis Mitte-Ende der 1920er Jahre und folglich auch in Anzeigen, Bespre-
chungen oder essayistischen Texten zum russischen Theater. Dessen erste Auf-
führung fand schon am 15.4.1918 in der Volksbühne statt; eine Rückschau der
Neuen Wiener Bühne auf das Spieljahr 1918/19 verzeichnet ebenfalls zwei Tol-
stoj-Stücke im Repertoire, das heißt neben Der lebende Leichnam die deutsche
Erstaufführung von Und das Licht leuchtete in der Finsternis.13 Das Burgtheater
nahm den Lebenden Leichnam dann im Jänner 1920 in sein Programm auf, das
Deutsche Volkstheater im Juni und September 1922; im Rahmen von Vorträgen
der sozialdemokratischen Arbeiterbildung, oft im Verbund mit dem Bildungsre-
ferat der Volkswehr, sind zudem zahlreiche Tolstoj-, aber auch Gor‘kij-Vorträge
nachweisbar. Maksim Gor’kij galt auch in der Roten Fahne Anfang der 1920er
Jahre beträchtliche Aufmerksamkeit.14
2 Musils Revolutionstagebuch und Theaterkritik
Von Robert Musil wissen wir aus den Tagebüchern und seinen Kontakten mit
Robert Müller, Verfasser der programmatischen Schrift Bolschewik und Gent-
leman (1920), dass die Veränderungen in Russland seit 1918 immer wieder in
den Fokus seiner Recherchen gerieten und als Steinbruch für Reflexionen und
Skizzen, auch literarischer Natur, dienten. Insbesondere Musils Tagebücher aus
den Jahren 1918–23 bieten interessante Anmerkungen unter dem wiederkeh-
renden Stichwort „Bolschewismus“ („Rußland“ taucht dagegen selten auf). In
einem undatierten Eintrag des ersten Tagebuchheftes wird zum Beispiel in gro-
ben Umrissen das – unausgeführt gebliebene – Projekt Der Teufel skizziert, in
dem die Hauptfigur, ein anarchisch denkender Theologe, unter anderem auch
im Hinblick auf seine überraschende Haltung in ideologischer Hinsicht vorge-
stellt wird, nämlich als Figur, die „vom religiösen Standpunkt gar nichts gegen
den Bolschewismus einzuwenden“ habe.15
13 Vgl. dazu: N.N.: [o.T.]. In: Illustriertes Oesterreichisches Journal (1.8.1919), S. 3.
14 In der Arbeiter-Zeitung sind zwischen 1920 und 1925 etwa 160 Tolstoj-Einträge
gemäß dem ANNO-Suchprogramm abrufbar, zu Gor’kij in allen Zeitungen bis
1927 über 700.
15 Robert Musil: Tagebücher. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek: Rowohlt 1976, Bd. 1, Heft
1, S. 319.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur