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Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Seite - 70 -
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Primus-Heinz Kucher70 Keineswegs voreingenommen, wie dies von einem kaiserlich-königlichen Offizier vielleicht zu erwarten gewesen wäre, beobachtet Musil, so sein „Revo- lutionstagebuch“ vom 2.11.1918, die „Umsturzstimmung“ und die Formierung von Soldatenräten, um festzuhalten:  „K[isch] bemüht sich, da hinein Bolsche- wismus zu tragen.“16 Zugleich beharrt Musil auf eine Distanz, die er mit einer sich auferlegten Verpflichtung auf eine radikal individualistische „revolutionäre“ Einstellung unterlegt, die sich nicht von organisierten Bewegungen vereinnah- men lassen dürfe. Eine leise Sympathie klingt dennoch durch, und zwar jene mit dem zeitgenössischen Wiener (aber auch Berliner) Aktivismus, für ihn expliziter als etwa für Kurt Hiller oder Ludwig Rubiner „eine geistige Bewegung“, den er in die Aura der kurzlebigen literarisch-politischen Vereinigung Katakombe taucht sowie mit dem Konzept Jugendlichkeit umgibt. Die Beobachtung eines vierzehn- jährigen Mädchens mit langen Zöpfen transferiert Musil etwa in das Bild einer potentiellen Revolutionärin („kleidet sich wie eine russische Revolutionärin“17). Auch im Zuge des in Wien aufmerksam verfolgten Experiments der Ungari- schen Räterepublik, der Präsenz zahlreicher ihrer Exponenten nach deren Schei- tern im August 1919 und der dabei in Intellektuellenkreisen geführten Debatten kommt Musil mehrmals auf den Bolschewismus zu sprechen. Erstaunlicher- weise nimmt er im Kontext von Reflexionen über verschiedene ideologische Haltungen  – er nennt sie auch ‚Konstitutionen‘  –, welche im Zuge der politisch- sozialen Neu- und Umgestaltung nach 1918 als revolutionär sich verstehende, dann wieder als gegenrevolutionär agierende Bewegungen zutage treten, den Bolschewismus von der „Sturmflut von Schmach, Dummheit, Niedrigkeit und Unglück“, welche diese „über die Welt gebracht“ hätten, aus. Er, das heißt der Bolschewismus, werde nämlich „zuviel verleumdet“.18 Die Einträge legen ferner auch nahe, dass Musils Interesse an ihm nach der erfolgten Lektüre von Bol- schewik und Gentleman abzukühlen begann, nicht aber an der russischen Kultur und deren Präsenz in Österreich, die sich zu Beginn der 1920er Jahre im Bereich des Theaters als ausgesprochen vital im Hinblick auf innovative dramaturgische 16 Ebd., S.  343. 17 Musil, Tagebücher, Heft 8, S.  373; zum Aktivismus vgl. ebd., S.  398. Die Affinität von Bolschewismus und Jugendbewegung ist auch in einer weiteren Eintragung zu fassen, wenn es heißt:  „Bist du vom Kommen des Bolschewismus überzeugt, brich mir dir, werde jung und beschränkt uneingeschränkt!“ (Ebd., S.  408.) Zu Musil, Müller und dem Aktivismus vgl. auch:  Roger Willemsen:  Robert Musil. Vom intellektuellen Eros. München–Zürich:  Piper 1985, S.  150f. u.  158. 18 Musil, Tagebücher, Heft 19:  1919–1921, S.  542. Dieser Eintrag steht zugleich in unmit- telbarer Nähe zur Desillusionierung über die Räteherrschaft in Ungarn.
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Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Titel
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Untertitel
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Autor
Primus-Heinz Kucher
Herausgeber
Rebecca Unterberger
Datum
2019
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY 4.0
ISBN
978-3-631-78199-9
Abmessungen
14.8 x 21.0 cm
Seiten
466
Kategorie
Kunst und Kultur
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