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Russlandbilder bei Weiß, Musil, Lania und Rundt 71
Konzepte, aber auch im Hinblick auf das Publikumsinteresse präsentierte. Von
Musil liegt nämlich eine Reihe von Theaterkritiken aus der Zeit von 1921–23 vor,
die eindrücklich dokumentiert, welchen Stellenwert russische Stücke und deren
Autoren um 1920 für ihn und wohl auch für den zeitgenössischen Theaterbe-
trieb hatten. Neben kurzen resümierenden Besprechungen finden sich pointierte
ins Grundsätzliche zielende Bilanzierungen. So verknüpft Musil eine kritische
rückblickende Einschätzung auf das Jahr 1922, wonach „Theaterbericht […]
also Krankenbericht [ist]“ und Wien sich für eine bedeutende Theatermetropole
halte, mit dem interessanten Verweis: „[A] lles Bedeutsame kam aus Berlin oder
Moskau“.19
Als Highlight firmiert dabei zweifellos das Moskauer Künstlertheater, das
ihm bereits von der legendären Inszenierung von Gor’kijs Nachtasyl in Berlin –
1903 war Musil bekanntlich dorthin zum Studium gekommen – oder der ers-
ten Wiener Aufführung von 1906, „damals noch unter Stanislawski“, in bester
Erinnerung wäre.20 Auch 1921, als es im April im Wiener Stadttheater zehn Tage
gastiert, scheint dies noch nachzuwirken. Zwar gesteht Musil zunächst, er „zau-
derte“ vor dem „Wiederzusammentreffen“, da der Krieg eine Trennung zwischen
den Regisseuren Konstantin Stanislawski und Wladimir I. Nemirowitsch-Dant-
schenko, die in Moskau geblieben waren, und dem Großteil des Ensembles, das
aus Russland weggegangen war, nach sich gezogen hatte, unschlüssig, wie er dies
bewerten solle. Doch die Eindrücke aus der Aufführung sprechen für sich: „Da
ist vor allem die Musik der Stimmen“, und zwar so, wie man dies nur bei Stanis-
lawski lernen könne, sowie die Art, wie „aus der Charakteristik der Figur die
Gebärden wachsen, Eigenwert werden“ [MK
1477]
– zwei Dimensionen drama-
tischen Spiels also, die Musik und das Gestisch-Korporale, an sich noch nichts
Revolutionäres, für Musil jedoch eine für das moderne Theater unumgängliche
Perspektive jenseits der Stil-Debatten aufzeigend:
Es wäre also ein Mißverständnis, ihren Stil für naturalistisch oder impressionistisch
zu halten, trotzdem in den Stücken von Gorkij, Tschechow und den Illustrationen zu
Dostojewskij die Grundierung nach dieser verleiten könnte, und zu meinen, daß sie
19 Ders.:
Gesammelte Werke. Bd.
9:
Kritik. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek:
Rowohlt 21981,
S.
1542. Relativierend dazu vgl. Musils Einschätzung über die erste Jahreshälfte 1922
unter dem Titel „Zwischensaison“ nach einer Kritik an der gängigen Stücke-Auswahl
durch die Theaterdirektoren:
„Dennoch darf man die beachtliche Leistungsfähigkeit
des Wiener Theaters nicht übersehen. Es fehlt überall bloß der Wille, sie auszunüt-
zen.“ (Ebd. S. 1595.)
20 Ders.: Moskauer Künstlertheater [24.4.1921]. In: ebd., S. 1476f.; im Text fortan mit
der Sigle [MK] zitiert. Die Aufführungen selbst fanden ab 9.4. bis 17.4.1921 statt.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur