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Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Seite - 72 -
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Primus-Heinz Kucher72 die späte Blüte einer verklungenen Kunstrichtung sind. Was die spielen […][,] kommt nicht als eine seit zwanzig Jahren vergehende Kunst zu uns, sondern als die Kunst der Zukunft, sofern eine Zukunft dem europäischen Theater überhaupt noch beschieden sein soll. [MK  1478] Und doch kontrastieren sie für Musil  – wie für einige andere Kritiker  – die zeitgenös- sische (Wiener) Bühnenpraxis ebenso, wie sie „dem üblichen Kritiker- und Schau- spielergerede“ widersprechen, dessen abrufbares Vokabular sich einer Melange aus „germanistischem Seminar“ und „Operettenmarkt“ verdanke.21 Nichts Geringeres wird in dieser Kritik unausgesprochen mit angesprochen als das Phänomen, das als ‚Entliterarisierung‘ des Theaterspiels firmiert, als „Befreiung des Theaters von den Fesseln der Literatur“, folglich der Beginn der Demontage bürgerlicher HeldInnen- konfigurationen, womit es in die Nähe von Kernforderungen avantgardistischer Theaterkonzepten seit Edward Gordon Craig bis hin zu Wsewolod Mejercholʼd und Aleksander Tairov gerate.22 Auch das nachfolgende Gastspiel in der zweiten Novemberhälfte 1921 nützt Musil dazu, weniger die aufgeführten Stücke zu resümieren, als vielmehr neuerlich ins Grundsätzliche auszuholen, das heißt sich mit zeitaktuellen Tendenzen auf der Bühne auseinanderzusetzen. Vor diesem Hintergrund kommentiert er die seiner Meinung nach ambivalente Aufnahme des Moskauer Künstlertheaters in Wien, das zwar akklamiert, dessen eigentliche „neue“ Spielkunst und Idee von einem künfti- gen Theater jedoch kaum in der ihm zukommenden Weise erkannt werde: Trifft eine neue Vorstellung von dem, was Theater sein kann, aber auf die alten Katego- rien in einem Augenblick, wo Gedankenlosigkeit, eine unternehmungslustige Zeit und Selbstbehagen den Boden gefrieren ließen, so tritt das ein, was den Moskauern gegen- über anscheinend eingetreten ist. Man lobt sie verstockt, mit den alten, unveränderten Gedanken, fühlt, daß diese Lobgedanken irgendwo nicht decken, und nennt das:  Exo- tik […][.] Damit ist das Erlebnis dann zum nur ästhetischen degradiert, und aus einer Lebensangelegenheit zu einer des Gesprächs gemacht. Exotik hieß hier „das Russische“ oder auch „ihre realistische Darstellungskunst“. Ich habe, was für einen Dichter nicht schwer ist, gleich zu Beginn vor diesen beiden Mißverständnissen gewarnt […][.] Was die Moskauer spielen ist nicht Realismus, sondern es ist das Bühnenwerk als Kunstwerk, und es ist ebendeshalb nicht russisch, sondern europäisch. Es sollte Europa sein. In der Tat ist aber das europäische Theater einen anderen Weg gegangen.23 21 Ebd., S.  1480. 22 Vgl. Erika Fischer-Lichte:  Geschichte des Dramas. Bd.  2:  Von der Romantik bis zur Gegenwart. Tübingen–Francke:  UTB 32010, S.  163f. 23 Robert Musil:  Nachwort zum Moskauer Künstlertheater [25.11.1921]. In:  ders., Gesammelte Werke 9, S.  1526f.
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Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Titel
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Untertitel
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Autor
Primus-Heinz Kucher
Herausgeber
Rebecca Unterberger
Datum
2019
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY 4.0
ISBN
978-3-631-78199-9
Abmessungen
14.8 x 21.0 cm
Seiten
466
Kategorie
Kunst und Kultur
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