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Russlandbilder bei Weiß, Musil, Lania und Rundt 79
vornehmlich feudal-agrarischen sozio-ökonomischen Strukturen rühren, Fra-
gen, die Rundt unter Abwägung des Gewinn-Verlust-Kalküls für die Betroffe-
nen wie für den Staat thematisiert:
Leben und Bestehen des Sowjetstaates ist aufs engste mit der Frage verknüpft, ob es gelingt,
den russischen Bauern der neuen Staatsform einzufügen und dienstbar zu machen. Es han-
delt sich nicht nur darum, ihn durch Zwang in die Kollektiv-Landwirtschaft zu pressen, das
Problem heißt: 100 Millionen russische Bauerngehirne von den Vorteilen der kollektiven
gegenüber der Individual-Wirtschaft zu überzeugen. [AR
65]
Was sich auf dem ersten Blick wie eine Volte gegen Zwangskollektivierung und
somit gegen das Sowjet-System anhört, erweist sich auf den nachfolgenden Seiten
als abwägende, auf Fallbeispiele gestützte Auseinandersetzung mit Facetten der
gerade im Umbruch beziehungsweise Umbau befindlichen Wirklichkeit. Dabei
kommen einzelne neue Berufsbilder als Zeichen der Modernisierung gut weg,
zum Beispiel das des Traktoristen [AR 72], während die noch im experimentellen
Zustand befindlichen Getreide-Sowchosen eher auf skeptische Resonanz stoßen,
würden sie doch den Typus des dörflichen Bauern zu sehr jenem des Industrie-
arbeiters annähern [AR 73]. Bei nahezu allen Überlegungen zu diesen Umbau-
Prozessen stellt Rundt Vergleiche mit der amerikanischen Wirklichkeit an. Die
angepeilte Produktivität als Ausweis sowjet-kollektivistischer Überlegenheit über
das Individualkonzept scheint ihm, Rundt, kapitalistisch-amerikanischen Produk-
tionsformen allerdings tief verwandt zu sein.
Auch Veränderungen im Sprachlichen registriert Rundt mit Interesse, beglei-
ten sie nämlich diesen als Modernisierung konzipierten Umbau-Prozess und
stellen, mitunter auch in subtiler ironischer Brechung, neue Ausdrucksformen
bereit, etwa Wortspiele im Umfeld der Maschine („stanká“) bis hin zu einem
„Sowjet-Rotwelsch“ [AR 86]. Im Anschluss berichtet er von der neuen russi-
schen Schule, die weder Drill noch Konkurrenzkampf kenne, sondern nur den
Einsatz für „das neue Leben, das aufgebaut werden soll“ [AR 98]; eine Schule,
die den Brückenschlag zur Arbeitswelt suche, darauf aus, „die Fesseln der Tradi-
tion zu lösen“ [AR 100], weshalb „überall […] das Prinzip kollektiven Handelns
gelehrt [wird]“. Hinter dessen Fassade meint Rundt freilich auch Härte und
Erziehung zu „kalter Nüchternheit“ wahrzunehmen: „Es lernt, daß eine tech-
nisch hochentwickelte Welt die nächste Stufe ist auf dem Weg zu einer besse-
ren Welt, es denkt mechanisch und materialistisch, es träumt von Fabriken und
Traktoren.“ [AR 103] Träumt ‚es‘ auch „unsentimental“, so träumt es immer-
hin
– einerseits eine „Freude auf eine bessere Zukunft“ [AR,
61], andererseits im
Sinn eines aufblitzenden letzten Rückzugsraums vor dem allumfassenden Kol-
lektivierungsprogramm, das als „Befreiung der Individuen von den Belastungen
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur