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Jürgen
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neue Kulturstufe antizipiere.2 Es ist kurios, dass Fischer auf den Tag genau drei
Jahre später seine enthusiastische Besprechung des Films Der blutige Sonntag mit
demselben Bild und fast denselben Worten einleiten wird:
Der ungeheure Rhythmus der Masse pulst in diesem Film, der geduckten, der zermalm-
ten, der zur Revolution erwachenden, der im Aufruhr sich selber erlebenden Masse.
Manchmal zuckt Einzelschicksal für Augenblicke auf, […] wie ein Blitzstrahl nur, der
grell die Masse beleuchtet, von deren revolutionärer Erschütterung gefolgt.3
Als eindringliches Beispiel für diese Technik schildert Fischer eine Einzelszene
aus dem blutigen Geschehen am 9. Januar 1905, als Zar Nikolaus II. eine Hun-
gerdemonstration vor dem Petersburger Winterpalais niederkartätschen ließ.
Ein alter Prolet, dessen unpersönliches Gesicht allein von Hunger und Ernied-
rigung zeugt, wird niedergeschossen, ergreift als ein „zertrümmerte[s] Stück
Masse […] wankend und einsam“ eine rote Fahne und trägt sie den Linien der
Mörder entgegen. Fischer sieht den Film als ein revolutionäres Kunstwerk an,
das keiner Ideologie diene, sondern durch seine „brennende Gläubigkeit“ und
„als Ausdruck einer fanatischen Überzeugung“ mitreißend wirke. Als wesent-
liche Aussage begreift er die Kritik an der trügerischen Hoffnung, der Zar ließe
sich durch die Tatsache, dass der Aufstand von dem Popen Gapon angeführt
worden sei, zu einem christlichen Handeln bringen. Fischer resümiert: „‚Nicht
im Zeichen des Kreuzes, im Zeichen der roten Fahne werdet ihr siegen!‘ Das ist
der Sinn.“4 Aus Fischers Perspektive besitzt diese Losung auch für die Gegen-
wart der russischen Gesellschaft ihre Gültigkeit. Er nimmt daher auch Anstoß
am Schluss des Films, der einen Bogen zur Gegenwart schlägt und die Oktober-
revolution als endgültigen Sieg über die Unterdrückung und als die Erfüllung
aller Hoffnungen deutet.
In seiner Rezension zeigt sich Fischer zudem an der Machart des Films inter-
essiert. So nennt er die Synchronizität zwischen dem Billard spielenden Zaren
und den auf die Menge schießenden Soldaten einen „genialen Einfall des Regis-
seurs“ Vjačeslav Viskovskij: „Der unbedeutende, nichtssagende Zar […] spielt
Billard. Man sieht ihn spielen – und Reiterregimenter sprengen heran; er zielt
2 Fischer beendet die Besprechung mit dem Eindruck, der Auftritt vermittle das
„unheimliche Gefühl, das sich an Dostojewski, an Tolstoi, an Lenin, an alles Russi-
sche knüpft, jenes Gefühl, dass der Osten langsam Europa überwächst, dass dort ein
neuer Gott und ein neuer Mensch sich erheben.“ (Ebd.)
3 Ders.:
Der blutige Sonntag. Der zweite russische Großfilm in Graz. In:
Arbeiterwille
(5.9.1926), S. 5.
4 Ebd.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur