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E. Fischers Auseinandersetzung mit der Sowjetunion 85
nach dem Ball – und Gewehre werden in Anschlag gebracht; er stößt zu – und
die Salve stürzt in die Herzen seiner Untertanen.“5 Es ist evident, dass diese
Szene über das Massaker von Petersburg im Jahre 19056 in Korrespondenz zu
der berühmten Treppenszene in Sergej Ėjzenštejns Film Panzerkreuzer Potemkin
von 1925 steht, die 1905 in Odessa spielt und ebenfalls ein Massaker schildert.
Auf diesen Film Ėjzenštejns geht Fischer in seiner Besprechung des sowjetischen
Films Maschinist Uchtomski im April 1927 auch explizit ein. Beide Filme zeugen,
so Fischer, von einem „zu letzter Konsequenz gesteigerten Weltgefühl“.7 Dieses
Weltgefühl nennt Fischer Sozialismus und charakterisiert diesen wiederum mit
der Unsterblichkeit der Masse, womit zugleich die Idee der Revolution unsterb-
lich sei: „Hunderte fallen, Tausende stürzen, in Millionen erblüht ihr Blut.“ In
diesem Film ist es der Maschinist Uchtomski, der aus der Masse der Namenlosen
heraustritt, und die „tiefste Pflicht des Proleten, des Menschen der Gegenwart
[erfüllt]: da zu sein, wenn die Masse ihn braucht.“8
Die sowohl an beiden besprochenen Filmen als auch am Panzerkreuzer Potemkin
von Fischer in den hier zitierten filmkritischen Texten akzentuierte dramaturgische
Funktion der Masse ist im Übrigen die zentrale Kategorie des gesellschaftlichen
Wandels in der jungen Sowjetunion. Sie wird 1926 zum Beispiel auch von René
Fülöp-Miller in seinem kompendiösen Augenzeugenbericht Geist und Gesicht des
Bolschewismus als prägendes Phänomen in allen kulturellen und politischen Berei-
chen beobachtet. Fülöp-Miller definiert den Bolschewismus geradezu durch seine
Apotheose der Masse:
Alles, was heute in Rußland geschieht, geschieht um der Masse willen; jede Handlung
ordnet sich ihr unter. Kunst, Literatur, Musik und Philosophie dienen nur mehr dazu,
um ihre unpersönliche Herrlichkeit zu lobpreisen, und allmählich verwandelt sich alles
umher zu einer neuen Welt des allein noch herrschenden „Massemenschen“. […] Mit
nie geahnter Kühnheit wird in Rußland versucht, an dem Urbild des Menschen selbst
eine Korrektur vorzunehmen, den bisherigen Typus […] „seelenbehaftete Individual-
kreatur“ auszulöschen und sie durch einen „höheren Typus“, durch eine – wie man
5 Ebd.
6 Der Film hieß im russischen Original Der 9. Januar. Er orientierte sich an Maksim
Gor’kijs gleichnamiger Erzählung, die er nach seiner eigenen Teilnahme an dieser
Demonstration niedergeschrieben hatte (vgl. Viktor Sklovskij: Ejzensteijn. Reinbek
b.H.: Rowohlt 1977 (= dnb 55), S. 139–150).
7 Ernst Fischer: Maschinist Uchtomski. In: Arbeiter-Zeitung (12.4.1927), S. 8.
8 Ebd.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur